Kriegsweihnacht 1944.

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Kriegsweihnacht 1944.

Beitrag von -sd- »

Letzte Weihnachten in unserer Heimat.
Von Armin Weinert

Am Morgen des 24. Dezember 1944 regnete es. Der Himmel war trübe und schwer. Ein leichter
Westwind drückte die Tropfen an Häuserwände und Fensterscheiben der kleinen Stadt in Ostpreußen.
Noch lagen Straßen und Plätze verlassen. Sie waren schmutzig und nass. Erst nachdem die
Geschäfte geöffnet hatten, sah man Menschen in den Straßen. Sie eilten von Laden zu Laden, um die
letzten spärlichen Einkäufe zu machen. Ihre Gesichter waren merkwürdig verschlossen, und ihre
Augen blickten ernst. Es fehlte ihnen das freudige Leuchten, das gerade am Tag des Heiligen Abend
die Erwartung auf das Kommende auszudrücken pflegt.

Alles war eben nicht mehr das Richtige. Wohl hatte man die Lebensmittelkarten voll beliefert und
sogar Bonbons, etwas Schokolade bzw. Konfekt gegeben, aber was nützte das schon, wenn die
Zeiten so furchtbar schwer waren. Die Herzen der Menschen bedrückte der Krieg im Osten.
In die ostpreußischen Grenzgebiete war die Rote Armee bereits seit Monaten eingedrungen und nicht
mehr zurückgewichen. Trotz verzweifelten Widerstandes der fast zerschlagenen deutschen Armeen
war der Zusammenbruch der deutschen Ostfront abzusehen. Obgleich die wenigsten der
ostpreußischen Bewohner darüber orientiert waren, kam es ihnen doch nicht mehr ganz geheuer vor.
So hatte sich die ganze Wehmut dieses grauen Dezembermorgens auch in die Herzen der Menschen
eingeschlichen, die immer noch etwas zu ahnen begannen. Irgendetwas Unbestimmtes — vielleicht
etwas Furchtbares. War es wohl dieses Unbestimmte, das keine richtige Weihnachtsstimmung mehr
aufkommen lassen wollte, das die Gesichter verschloss und den Blick trübte?

Das Leben in den Straßen erreichte seinen Höhepunkt am Nachmittag, als Geschäfte und
Dienststellen schlossen und Frauen, Mädchen und ältere Männer durch die Stadt nach Hause gingen.
Dann wurden die Straßen leer und still. Der Wind hatte nachgelassen und nur der Regen rieselte in
winzigen Tropfen vom grauen, trägen Himmel, der über Stadt und Landschaft hing.
Auf dem Marktplatz befand sich ein großer Tannenbaum. Er stand einsam und scheinbar vergessen.
Von seinen grünen Ästen tropfte das Wasser, das sich mit den trüben Pfützen auf dem Pflaster
vermischte.

Als es dunkelte, begannen seine elektrischen Kerzen zu strahlen, doch sie vermochten auch keine
Weihnachtsstimmung zu erzeugen. So wurde es dunkler und dunkler. Der Marktplatz lag gänzlich
verlassen da, niemand war zu sehen. Gespenstisch schwarz standen die Häuserfronten und die
dunklen Konturen des Kirchturms verloren sich in der schwarzen Nacht, die kein Stern erhellte. Dann
dröhnten die Glocken. Sie riefen die Gläubigen zum Gottesdienst.
Von überall tauchten vermummte Gestalten auf. Sie gingen durch die Straßen zur Kirche, in der die
Orgel aufbrauste und der Weihnachtsgottesdienst begann.
Auf dem Lichterbaum vor dem Altar brannten die Kerzen. Ganz anders als draußen auf dem
Marktplatz strahlten sie hier Wärme aus. Wärme für die Herzen, die nicht verzagen wollten trotz Krieg
und Entbehrungen, Schmerzen und Tod. Im Schein dieser Kerzen las der Pfarrer die
Weihnachtsgeschichte und dann betete er zu Gott um baldigen Frieden, aber ahnten er und seine
Gemeinde, wie nahe er war? Ahnten sie das, was an Furchtbaren noch dazwischen liegen sollte,
zwischen diesem Weihnachtsfest und dem so lange ersehnten Frieden? Nein — sie alle ahnten es
nicht und es war vielleicht gut so.
Der Regen hatte aufgehört, als die Kirchgänger in die dunkle Nacht hinaustraten und die Glocken das
Christfest einzuläuten begannen. Das letzte Christfest im Kriege und in der Heimat für die Bewohner
der ostdeutschen Lande.
Die Wolken hingen tief. Sie dämpften den Klang der Glocken, der dadurch kaum zu den
naheliegenden Wäldern drang, in denen es einsam und unheimlich still war.
Fast überall in den Familien wurden um diese Zeit die Lichter am Tannenbaum angesteckt. Es war
mollig warm in den Stuben. Die Kinder sagten ihre Gedichte auf und jubelten über die Geschenke, die
zwar nicht in so reichhaltiger Zahl wie früher unter dem Tannenbaum lagen, aber dennoch Freude und
glücklich sein schufen. Ja, die Kinder, für sie war es ein Weihnachten wie jedes andere. Sie merkten
den Unterschied oft nur an den dürftigen „bunten Tellern“ und an der Tatsache, dass der Vater nicht
zu Hause, sondern Soldat war. So waren die Kinder wohl die Glücklichsten unter den Tannenbäumen
der Kriegsweihnacht 1944.

Ganz anders die Erwachsenen. Da saß in einer kleinen Stube eine alte Mutter, deren Sohn gefallen
war. Sein Bild mit schmalem Trauerflor umwunden stand unter einem kleinen Lichterbaum, von
dessen Kerzen das flüssige Wachs zu Boden tropfte. Und diese Mutter saß da und weinte. Weinte um
ihren Sohn, der irgendwo in den Frost verstarrten Weiten Russlands in der hartgefrorenen Erde lag,
während über das Grab der Schneesturm pfiff. Sie hatte andere Weihnachten erlebt — damals vor
Jahren als ihr einziges Glück und ihre Hoffnung noch Blut und Leben hatten. Ja, damals — es war
schon lange her, aber jetzt — gefallen für Deutschland. Nein, sie wollte nicht mehr — sie wollte nicht
mehr leben, was hatte es noch für einen Sinn.

Oder eine junge Frau. Sie hatte ihren Säugling auf dem Arm, der mit großen Augen und kleinen
Patschhändchen nach den leuchtenden bunten Kugeln griff und die Welt so schön fand, weil er sie
noch nicht kannte. Die gleiche Welt, in der der Krieg tobte, der seinen Vater gemordet hatte. Was
nützten Tränen und Schmerzen der jungen Frau und Mutter — nichts. Das Schicksal schlug zu, wo es
hintraf. Es fragte nicht, es warnte nicht, es war gnadenlos und unerbittlich.

Doch nicht nur in diesen beiden Stuben waren Schmerzen und Tränen. In vielen, vielen Familien
fehlte jemand. Da weinten Eltern um ihre vermissten oder gefallenen Söhne, Geschwister um ihre
Brüder, junge Witwen um ihre Männer, Kinder um ihre Väter und junge Mädchen um ihre Verlobten
und Freunde. Aber da waren noch andere: Evakuierte und Flüchtlinge aus den Grenzgebieten, die
teilweise schon verwüstet oder von Russen besetzt waren. Und diese Bombengeschädigten und
Flüchtlinge hatten schon damals alles verloren, was sie einstmals besessen hatten, als in dieser
kleinen Stadt noch niemand an Flucht auch nur zu denken wagte. So weinten sie nicht nur um ihre
verlorenen Angehörigen sondern auch um ihre verlorenen, verwüsteten und niedergebrannten
Heimstätten, in denen sie noch vor einem Jahr Weihnachten gefeiert und vor einigen Monaten gelebt
hatten. Sie hatten es am schwersten von allen.

Aus den Sendern des Großdeutschen Rundfunks erklangen Weihnachtslieder. Helle Kinderstimmen
sangen das Lied von der stillen, Heiligen Nacht. Oder auch „Fröhliche Weihnacht überall ...!“ War es
nicht eine grausige Ironie angesichts des unsagbaren Leids in der Welt und der Roten Armee im
Land. Angesichts der hingemordeten Männer, der geschändeten Frauen und deportierten Menschen
überhaupt z. B. im Kreise Gumbinnen! Angesichts der vielen toten und verwundeten Soldaten an den
Fronten und der gerade in diesen Stunden sterbenden jungen Menschen. Fröhliche Weihnachten —
mein Gott! Die Heilige Nacht wurde klar. Vom Himmel leuchteten unzählige Sterne, und der Wind
hatte sich nach Osten gedreht. Hinter den abgedunkelten Fenstern verlöschten nach und nach die
Kerzen der Christbäume. Die Menschen gingen zur Ruhe, aber viele lagen noch lange mit schweren
Gedanken wach; nur die Kinder ruhten glücklich mit ihren Teddys und Puppen im Arm. Sie träumten
von Engeln und dem Christkindlein.

Mit den langsam verrinnenden Stunden ging die Heilige Nacht ihrem Ende zu; im Osten aber, dort wo
das Morgenrot zu leuchten begann, stand abwartend und sich auf ihren großen Schlag vorbereitend
die Rote Armee. Zum Sprung geduckt wie ein Tiger, stand sie dort vor der eingeschneiten, dünnen
deutschen Front.

Die beiden Weihnachtsfeiertage waren ruhig. Am Nachmittag des 25. Dezember setzte wieder der
Regen ein, und die Straßen der Stadt waren nur wenig belebt. Dagegen waren Cafés und Lokale
besetzt. Wer nach der Kaffeezeit kam, fand selten noch einen Platz. Die Gäste waren zum größten
Teil Soldaten und junge Mädchen. Die wenigen männlichen Zivilisten waren ganz junge, noch nicht
wehrdienstfähige Leute, sonst hätten sie bestimmt nicht hier gesessen.

Da sich seit vielen Monaten ein Lazarett und auch ein Ersatzbataillon in der Stadt befanden,
stammten die meisten Feldgrauen, die in den Lokalen saßen, auch von dort. Sie unterhielten sich bei
Kriegsbier, Heißgetränk oder einer mitgebrachten Flasche Kognak und feierten so auf ihre Art das
Fest. Sicher wären sie viel lieber zu Hause bei ihren Angehörigen gewesen, aber nicht alle hatten
Urlaub bekommen können und so mussten sie eben hier sitzen, wenn sie den Baracken und
Lazarettsälen entfliehen wollten. Ihr Los war nicht gerade beneidenswert.

Quelle: OSTPREUSSEN-WARTE, Dezember 1954
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Kriegsweihnacht 1944.

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Ersatzkaffee und Kuchen auf Marken.

Manche hatten seit Jahren das Weihnachtsfest in Schützengräben, Unterständen, Kasernen und
Cafés gefeiert, während ihre Angehörigen alleine zu Hause saßen. Ja, so war der Krieg. Und dabei
waren sie in diesem Jahr immer noch besser daran als ihre Kameraden an den Fronten. Diese hatten
sicher auch Kognak aber keine warmen Stuben, keine Ruhe und nachts keinen Schlaf, auch waren
sie nicht einmal ihres Lebens sicher. So konnten die jungen und alten Soldaten noch froh sein, daß
sie hier in dieser fremden Stadt sitzen durften.
Von den Einwohnern der Stadt waren trotz des schlechten Wetters viele zu den nahen Ausflugs-
lokalen hinausgepilgert. Hier hörten sie das Wehrmachtswunschkonzert und danach Schallplatten-
musik. Bei Ersatzkaffee und Kuchen auf Marken fühlten sie sich einigermaßen wohl.
Der weit überwiegende Teil der Menschen aber saß zu Hause bei Kaffee, Kuchen und Radiomusik
oder waren besuchsweise bei Verwandten oder Freunden. Die Männer spielten Karten, die Frauen
unterhielten sich und die Kinder spielten mit den Sachen vom Weihnachtsmann. Das Thema Krieg
war wenig aktuell. Man mochte nicht daran denken — absichtlich nicht, aus bestimmten Gründen.
So verging der 1. Weihnachtstag, still und friedlich, ohne besondere Ereignisse weder in der Stadt
noch an der ostpreußischen Front. —

Am Morgen des 26. Dezember hatte es gefroren, über Nacht war der Wind umgeschlagen. Er blies
kalt aus dem Osten und brachte Frost. Der Boden war leicht gefroren, und die Regenpfützen auf
den Straßen trugen eine dünne Eisschicht. Das nun trockene Wetter lockte schon in den Vormittags-
stunden die Frühspaziergänger aus den warmen Stuben. Wieder wurde in den häufigsten Fällen
bei sich anbahnenden Unterhaltungen das Thema Krieg ängstlich gemieden. Warum sollten sie
sich auch unnötig kopfscheu machen, wenn die Rote Armee wirklich marschieren sollte — nun,
man würde sie schon rechtzeitig warnen und evakuieren, — dachten sie. Aber sicher würde es
nicht dazu kommen. Der Führer hatte doch gesagt, er glaube nicht an eine russische Offensive.
Und sie glauben ihm doch alle noch ? Oder etwa nicht ? Doch — sie glaubten.

Am Nachmittag erlebten Markt und Straßen einen kleinen Spaziergängerrekord. Wieder wurden
Besuche gemacht. Cafés und Ausflugslokale waren restlos besetzt. Und wieder sah man die gleichen
Bilder wie am Vortage. Soldaten und Zivilisten in bunter Reihenfolge. Bier, Heißgetränke, Stimmen-
gewirr und Radiomusik. Seltener geworden waren die Kognakflaschen. Sie hatten nur für den
1. Feiertag gereicht.

Da die Dunstschicht trotz des Frostes die Sonne nicht hindurchgelassen hatte, wurde es bald dunkel.
Die Straßen leerten sich und wenige Zeit später erleuchteten die Kerzen des Tannenbaumes den
Platz vor dem Rathaus, der wieder still und einsam dalag. So kam die Nacht und mit ihr ging der
letzte Weihnachtsfeiertag seinem Ende zu. Der Frost wurde stärker. Er drang in die Erde und ließ ihre
Oberschicht mehr und mehr erstarren. Noch immer wehte der nun schärfer werdende Wind aus dem
Osten. Er wehte über kahle Felder und schlafende Dörfer, über Städte und dunkle Wälder und auch
über die alten Häuser dieser kleinen Stadt, in denen sich die Menschen zur Ruhe gelegt hatten und
noch nicht wissen konnten, daß es für sie die letzten Weihnachten in ihrer Heimat gewesen waren,
aber auch die letzte Kriegsweihnacht. Friedliche, ruhige Weihnachten 1944. Es war die Ruhe vor dem
Sturm, vor der großen Katastrophe, die alles verschlingen sollte. Und alle in dieser Stadt hatten nur
noch 28 Tage Zeit und wußten es nicht.

Quelle: OSTPREUSSEN-WARTE, Dezember 1954

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