Lebensbedingungen der Hamburger Hafenarbeiterfamilien.

Einige Berufsgruppen und deren Arbeitsbedingungen
u.a. Eisenbahner, Postbedienstete, Lehrer/innen, Förster, Müller, 'Unstete Berufe'.
Biographien deutscher Parlamentarier 1848 bis heute.

Lebensbedingungen der Hamburger Hafenarbeiterfamilien.

Beitragvon -sd- » 10.03.2019, 23:02

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Die Lebensbedingungen der Hamburger Hafenarbeiterfamilien.

Die Lebensbedingungen der Hamburger Hafenarbeiterfamilien halten
heute im Gegensatz zu 1918 bis 1933 keinem Vergleich stand. Bis hierher
war der Lebensstandard der Hafenarbeiterfamilien relativ gut. Obgleich
die Lebenslagen verhältnismäßig immer hart waren, sind sie mit den-
jenigen der heutigen Bedingungen unvergleichbar.

Nehmen wir einmal die Wohnungsfrage: Wenn im Reichsmaßstabe von
18.5 Millionen Wohnungen nur noch 7 Millionen übrig geblieben, 6,2
Millionen vollständig zerstört und 5 Millionen beschädigt sind, so sind
im Hamburger Wirtschaftsgebiet von 534.000 Wohnungen rund 300.000
zerstört und nur 234.000 übrig geblieben. Man stelle sich einmal vor, daß
der Hamburger 1938 etwa 13,6 qm Wohnraum besaß und ihm heute nur
durchschnittlich 6 qm mit Nebengelaß zur Verfügung steht.

In Hamburg sind 72.784 Wohngebäude total zerstört, 458 Kulturgebäude,
4.589 Fabriken und gewerbliche Räume, 235 landwirtschaftliche, 60
städtische und Verwaltungsgebäude dem Erdboden gleich gemacht.

43 Millionen cbm Schutt müssen fortgeräumt werden, bevor überhaupt
an einen Wiederaufbau von Wohnblocks herangegangen werden kann.
Diese furchtbaren Zahlen spiegeln das ungeheure Wohnungselend in
Hamburg und somit auch das für unsere Hafenarbeiterfamilien wieder.
Gerade unsere Arbeiterviertel, Barmbek, Hammerbrook, Hamm. Rothen-
burgsort und teilweise auch andere Stadtteile sind nicht mehr. In elenden
Kellern, Behelfsheimen, Wochenendlauben, Nissenhütten, ausgebauten
Böden oder zusammengepfercht in reparierten oder auch vorhandenen
Wohnungen mit allen unangenehmen physischen und psychologischen
Begleiterscheinungen haust heute der größte Prozentsatz der Familien
an der Peripherie der Stadt und hat im Gegensatz zu früher lange An-
marschwege zurückzulegen, bis er den Hafen oder umgekehrt seine
Heimstätte erreicht.

Die Hamburger Straßenbahn besaß bis 1938 1.395 Straßenbahnwagen,
mit denen 165 Millionen Personen jährlich befördert wurden. Wir hatten
im Jahre 1938 38 Linien, die nach allen Richtungen hin in einem Abstand
von 7 Minuten verkehrten. Heute laufen nur noch 1.75 Wagen, die aber
im Gegensatz zu 1938 172 Millionen Personen befördern. Bedenkt man,
daß kaum die Hälfte der Linien und davon nur ein Teil im Pendelverkehr
am Rande der Stadt verkehrt, und bedenkt man weiter die verringerte
Anzahl von 320 Wagen, dann kann man sich eine Vorstellung machen von
den katastrophalen Verhältnissen auf der Straßenbahn.

Eine Statistik der Hochbahn zeigt folgendes Bild: Die Hochbahn verfügte
1938 über 385 Wagen, mit denen 79 Millionen Personen befördert wurden.
Heute laufen von 385 nur noch 275 Wagen, von denen wiederum 25 ständig
in Reparatur sind. Mit diesen restlichen 275 laufenden Wagen werden heute
aber 113 Millionen befördert. Die Hochbahnwagen, die polizeilich in Friedens-
Zeiten nur 75 Personen fassen durften, werden heute in der Regel mit einer
Personenzahl bis zu 200 besetzt.

Autobusse standen der Gesellschaft 1938 154 zur Verfügung, mit denen 12
Millionen Personen befördert wurden. Heute laufen im Personenverkehr
höchstens 90 bis 100 Wagen, die vornehmlich in den Außenbezirken der
Stadt notdürftig den Verkehr aufrechterhalten. Diese Abteilung befördert
aber heute nur noch 6 Millionen Fahrgäste. Hier muß man sehen, daß der
Stadtautobus gänzlich eingestellt ist, und es zeigt sich an einem weiteren
bemerkenswerten Beispiel, daß sich der Verkehr im Gegensatz zu früher
nicht vornehmlich in der Stadt, sondern aus der Stadt heraus oder in die
Stadt hinein bewegt.

Die Walddörferbahnen beförderten 1938 bei einem 15-Minuten-Betrieb
etwa 8 1/2 Millionen Personen. Heute aber befördern die Linien der Wald-
dörferbahn bei demselben Zugabstand 30 Millionen. Diese Tatsache zeigt,
in welch hohem Maße auch unsere Hafenarbeiterfamilien, deren Väter
morgens um 6 Uhr in den Vermittlungsstellen stehen müssen, an die
Peripherie der Stadt verschlagen worden sind. Die meisten wohnen dann
aber in der Regel noch kilometerweit von den Endstationen der Verkehrs-
mittel entfernt. Diese müssen in der Regel zu Fuß zurückgelegt werden,
da Räder knapp sind. Diejenigen, die noch im Besitze von Rädern sind,
müssen zuzüglich zu den Fahrpreisen noch wochenweise Standgeld be-
zahlen und sind kaum in der Lage, Reparaturen wegen Mangel an Ersatz-
teilen auszuführen. Die Anmarschwege waren früher höchstens 3 bis 4
Kilometer weit, heute betragen sie 10 bis 12 Kilometer. Dazu kommt dann
noch häufig die Benutzung der S-Bahn, die eine doppelte Monatskarte,
also doppelte Fahrpreise notwendig macht. Zu diesen beiden negativen
Faktoren kommt ein weiterer, die Lebensbedingungen der Familien aufs
äußerste bedrückende Faktor: Die Ernährung !

Uns fehlen zur Zeit die früher vom Institut für Wirtschaftsforschung auf-
gestellten Indexziffern. Daher haben wir keine absolute Vergleichsmög-
lichkeit zwischen 1936 und 1946. Aber ohne diese exakten Berechnungen
kann jeder Laie ohne weiteres feststellen, das zwischen dem Einkommen
und den tatsächlichen Preisen der gesamten Lebenshaltung und insbeson-
dere der Lebensmittel eine außerordentliche Schere in der Preislage vor-
handen ist. Preise für Textilartikel zeigen Spannungen von mehreren
Hunderten von Prozenten. Statt eines Lohn- und Preisstopgesetzes kennen
wir nur noch ein Lohnstopgesetz, und das hat sich vornehmlich gegen die
Verbraucherschaft der Konsumgüter ausgewirkt.

Wenn wir über die Ernährungslage sprechen, dürfen wir nicht vergessen,
daß die 1500-Kaloriengrenze in den meisten Perioden um ein beträcht-
liches unterboten wurde, und große Mengen an Nahrungsmitteln können
nicht geliefert werden. Kartoffeln und Gemüse sind gleichfalls nicht in
genügenden Mengen vorhanden.

Was es weiter für die Lebensbedingungen der bei Wind und Wetter ar-
beitenden Hafenarbeiter und ihre Familien bedeutet, keinen Hausbrand
zu haben, können nur Leute nachfühlen, die selbst Hafenarbeiter gewesen
sind. Einen Zentner Briketts hat es bisher für die Hausbrandversorgung
gegeben.

Man stelle sich einmal einen vor Nässe triefenden, heimkommenden Hafen-
arbeiter vor, der nur eine Garnitur Arbeitskleidung besitzt. Es ist überhaupt
erstaunlich, daß unter derartig erschwerten Bedingungen eine Erhaltung
des Gesundheitszustandes und eine Reproduktion der Arbeitskraft möglich
ist. Nur das erschreckende Bild der Krankheitserscheinungen und die Kurve
der Krankheitsmeldungen zeigt uns ein anschauliches Bild der wahren
Zustände. Von den Krankmeldungen bei der Allgemeinen Ortskrankenkasse
belegen im Gegensatz zu den Hafenarbeitern die allgemeinen Berufe
6 v.H. und die Hafenarbeiter 18 v.H. der Krankheitskurve.

Auch die Unfallziffern sind ein Gradmesser. Ursache sind die erschwerten
Lebensbedingungen, die die Aufmerksamkeit im Arbeitsvorgang beeinträch-
tigen. Der Arbeitsvorgang im Hafen wird ohnehin durch das Einschleusen
unqualifizierter Arbeitskräfte erschwert und gefährdet. Der Prozentsatz der
eingearbeiteten und gelernten Hafenarbeiter ist gegenüber denen, die
während des Krieges und nach dem Krieg in den Hafen hineingekommen
sind, ein sehr geringer. Da der Arbeitsvorgang beim Güterumschlag des
Hafens ein komplizierter und gefährlicher ist, sind die Gefahrenmomente
sehr groß. Daraus erklärt sich die relativ große Unfallziffer.

Quelle:
Gesamtverband, Bezirksverwaltung Hamburg.
Verlag Freie Gewerkschaft GmbH, Hamburg. / Hanseatische Druckanstalt.
September 1947.

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