Kind am Weihnachtsabend. Von Theodor Storm.

Kind am Weihnachtsabend. Von Theodor Storm.

Beitragvon -sd- » 24.04.2020, 18:33

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Kind am Weihnachtsabend.
Von Theodor Storm

Die fremde Stadt durchschritt ich sorgenvoll,
Der Kinder denkend, die ich ließ zu Haus.
Weihnachten war's, durch alle Gassen schwoll
Der Kinder Jubel und des Marktes Gebraus.

Und wie der Menschenstrom mich fortgespült,
Drang mir ein heiser Stimmlein in das Ohr:
„Kauft, lieber Herr!" Ein magres Händchen hielt
Feilbietend mir ein ärmlich Spielzeug vor.

Ich schrak empor, und beim Laternenschein
Sah ich ein bleiches Kinderangesicht;
Wes Alters und Geschlechtes es mochte sein,
Erkannt ich im Vorübertreiben nicht.

Nur von dem Treppenstein, darauf es saß,
Noch immer hört ich, mühsam, wie es schien,
„Kauft, lieber Herr!" den Ruf ohne Unterlaß;
Doch hat wohl keiner ihm Gehör verliehn.

Und ich ? — War's Ungeschick, war es die Scham,
Am Weg zu handeln mit dem Bettelkind ?
Ehe meine Hand zu meiner Börse kam,
Verscholl das Stimmlein hinter mir im Wind.

Doch als ich endlich war mit mir allein,
Erfaßte mich die Angst im Herzen so,
Als saß mein eigen Kind auf jenem Stein
Und schrie' nach Brot, indessen ich entfloh.

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'Weihnacht 1946'.

Wir nennen sie die heiligste der Nächte,
weil aus dem dunklen Schoß der Ewigkeit
ein Licht aufstrahlt, das alle tiefen Schächte
des Lebens helle macht und leuchtet weit.

Wir nennen sie die heiligste der Nächte,
weil aus Mariens unberührtem Schoß
ein Kind geboren ward, das die geballten Mächte
der Finsternis zerbricht und macht vom Tode los.

Wir nennen sie die heiligste der Nächte,
weil in ihr glüht der Liebe Rose auf:
zu Gottes Kindern werden da die Knechte,
die Tür zum Vaterhause winkt verirrtem Lauf.

Auch über die zerstörte Heimat sinkt sie nieder
und sie umfängt die Liebsten in der Fern,
auch unter Tränen segnet sie die Lieder
und kündet uns die Herrlichkeit des Herrn.

Dieses Gedicht von Pfarrer Leitner ist in der notvollen
Weihnachtszeit 1946 in Königsberg entstanden.


Quelle: OSPREUSSENBLATT, 24. Dezember 1955

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