Berliner Flüchtlingsproblem 1953.

Berliner Flüchtlingsproblem 1953.

Beitragvon -sd- » 20.03.2021, 12:53

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Berliner Flüchtlingsproblem.
Politische Ostflüchtlinge aus der Mittelzone.

Eine Unterredung mit dem Westberliner Senator für Sozialwesen.

Die Zahl der seit Übernahme des Bundesnotaufnahme-Verfahrens Anfang Februar d. J.
nach Westberlin Geflüchteten dürfte damit die Zahl 120.000 überschreiten. Über die
in diesem Zusammenhang äußerst angespannte sozialpolitische Situation Westberlins
unterhielt sich unser Berliner Redaktionsvertreter mit dem Westberliner Senator für
Sozialwesen, Otto Bach.

Zunächst ist festzustellen, daß man die Lage Westberlins vielfach schematisch, mit
westlichen Maßstäben ansieht. Man vergißt einmal, daß Berlin als einstige Hauptstadt
und darüber hinaus als größte Industriestadt Europas heute von seinem natürlichen
Hinterland abgeschnitten ist und zwar nicht nur von der Sowjetzone, sondern auch
von den Gebieten jenseits der Oder und Neiße. Man vergißt auf der anderen Seite, daß
Berlins politische und wirtschaftliche Situation nicht von seiner menschlichen Insel-Lage
zu trennen ist und daß die Berliner Bevölkerung einen Hauptteil der Last des Kalten
Krieges trägt.

Von 2,2 Millionen Einwohnern der Westsektoren sind zurzeit 270.000 arbeitslos —
sehr viel mehr also, als in jeder größeren Stadt Westdeutschlands. Diese Zahlen an
sich sagen aber wenig. Zu berücksichtigen ist, daß etwa eine Million Menschen bei
uns vorwiegend oder ausschließlich von der öffentlichen Fürsorge leben. Die Tatsache,
daß die Arbeitslosigkeit nicht sichtbar und ständig zurückgehen kann, steht in engstem
Zusammenhang mit dem Zustrom der politischen Flüchtlinge. Mit ihm steigen zugleich
die Fürsorgelasten.

Auf 1.000 Einwohner kommen 98, die von der öffentlichen Fürsorge erhalten werden.
In der Bundesrepublik sind es nur 26.

Die Abwanderung aus der Mittelzone aus politischen Gründen setzte mit Beginn des
Jahres 1949
, d. h. zum Zeitpunkt der sichtbar werdenden Spaltung Deutschlands ein.

Waren es 1947 = 70.000 Menschen — so kamen in den beiden nächsten Jahren bis zum
Februar 1952 fast 130.000 — zusammen also annähernd 200.000 politische Flüchtlinge
nach Westberlin. Inzwischen ist die Viertelmillionen-Grenze längst überschritten. Ein
großer Teil blieb und bleibt in Berlin.

Insgesamt betrugen die Kosten für Unterbringung, Verpflegung und Betreuung der
Flüchtlinge: 1949 = 3,3 Millionen, 1950 = 8,8 Millionen und 1951 mehr als 20 Millionen.
Inzwischen hat sich diese materielle Last seit Einführung des Bundesnotaufnahme-
gesetzes zwar theoretisch verteilt, die Belastung Berlins bleibt aber angesichts des
starken Zustroms praktisch gleich groß. Mit einer wirklichen Entlastung oder gar mit
einer Lösung des Gesamtproblems kann erst in dem Augenblick gerechnet werden,
in dem die Wiedervereinigung in greifbare Nähe rückt. Fest steht, daß die Frage der
politischen Ostflüchtlinge vom Problem der Heimatvertriebenen heute nicht mehr
getrennt werden kann — sie alle eint der Wunsch und die Hoffnung auf baldige Rück-
kehr in die verlorene Heimat.

Quelle: OSTPREUSSENBLATT, 5.Januar 1953

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