Von 1945 bis 1948 in Königsberg.

Von 1945 bis 1948 in Königsberg.

Beitragvon -sd- » 20.01.2021, 16:23

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Von 1945 bis 1948 in Königsberg.
Von Dr. Ing. Erich Bieske, früher Königsberg.

Ich will hier einen Bericht geben über die fürchterliche Zeit, die wir in Königsberg
Zurückgebliebenen in den 3 ¼ Jahren von der Einnahme der Stadt durch die Rote
Armee bis zu unserer Abbeförderung 1948 haben durchmachen müssen. Ich will
einen wahrheitsgetreuen Bericht zu geben versuchen; es ist viel übertrieben worden.
Die Wahrheit, die übrig bleibt, ist immer noch fürchterlich genug: Bei der Besetzung
Königsbergs durch die sowjetischen Truppen am 9. April 1945 waren noch 90.000
Menschen (ohne die Truppe) in der Festung. Diese Zahl ist mir wenige Tage vor der
Einnahme von dem Leiter des Ernährungsamtes als, die der ausgegebenen Lebens-
mittelkarten genannt worden. Ich schätze, dass etwa 5.000 bis 10.000 Menschen
ins Reich oder nach Litauen fliehen konnten und daß etwa 30.000 in den Jahren
1947 und 1948 mit den Transporten nach dem Reich herauskamen, so daß nach dem
9. April etwa 50.000 Königsberger umgekommen, d. h. meist verhungert sind.

Am 12. Januar 1945 beginnt die große russische Offensive bei Baranowitschi. Sie
greift auf die ganze Front über; es folgen die Kämpfe an der ostpreußischen Grenze
bei Schloßberg und der für Ostpreußen verhängnisvolle sowjetische Vorstoß aus dem
Raum von Zichenau quer durch die ganze Provinz auf Elbing zu. Damit ist Königsberg
schon nach neun Tagen vom Reich abgeschnitten. Am 21. Januar abends verläßt der
letzte Berliner Nachtschnellzug den Königsberger Bahnhof. An dem gleichen Abend
lassen die Ortsgruppen in den Häusern ansagen, die Bevölkerung möge beim Ertönen
eines dreimaligen Entwarnungssignals sich auf den Weg nach Pillau begeben. Und das
in einer Winternacht bei strenger Kälte !

Am 29. Januar schließt sich allmählich der Ring des Belagerns. Mir gelingt es an
diesem Tage, spät abends mit einem Fuhrwerk, das ich mit Frauen und Kindern bei
siebzehn Grad Kälte nach Pillau kutschiere, aus der Stadt heraus und an der gefähr-
lichen Stelle bei Metgethen vorbeizukommen. Sechs Stunden später drückt der Russe
die Front bei Metgethen ein: Der Ring um die Stadt ist fest geschlossen. An diesem
Tag beginnt die Beschießung der Stadt mit Artillerie, es beginnen die ständigen Luft-
angriffe, es beginnt die Belagerung.

Das Straßenbild wandelt sich zusehends. Der Straßenverkehr liegt seit Tagen still.
Der Auto- und Fuhrwerksverkehr wird geringer. Auf der Straße sind fast nur Fuß-
gänger und Radfahrer zu sehen. An zahllosen Straßenecken, Abzweigungen und
Kreuzungen werden Barrikaden gebaut, planlos und sinnlos, teilweise aus brauch-
baren, oft aus ganz unmöglichen Baustoffen. Hier werden schwere Eisenträger ein-
gegraben, mit Längsträgern verbunden und mit Gebäudeschutt hinterfüllt, dort wird
ein Straßenbahnwagen umgelegt, der nun die Straße sperren soll. Die Bevölkerung,
vor allen auch Frauen, werden von den Ortsgruppen vielfach unter Zwang zum
Barrikandenbau herangeholt. Sprengungen werden vorbereitet und ausgeführt.
Aus allen Weichen der Straßenbahngleise und vieler Eisenbahngleise werden die
Herzstücke herausgesprengt; alles sinnlos und planlos, als ob man damit die Ein-
nahme der Stadt verhindern oder aufhalten könnte ! Von der Universität sprengt
man die Standbilder herunter; die Steinbrocken fliegen auf dem ganzen Paradeplatz
herum. Das neue Wasserwerk Seewalde und die im Samland liegenden Staubecken
und Teiche dem Wasserwerks Hardershof sind bereits in sowjetischer Hand. Das
Pregelwasserwerk Jerusalem liegt unter Beschuß. So werden an zahlreichen Stellen
der Stadt zur Versorgung der Bevölkerung Brunnen gebohrt und Handpumpen aufge-
stellt.

Die Verwaltung geht ganz an die Partei über. Der Kreisleiter ist der tatsächliche
Machthaber. Der Gauleiter hat sich bereits nach Pillau in Sicherheit gebracht und
kommt nur gelegentlich nach Königsberg. Die Partei übernimmt die Verteilung der
Lebensmittel an die Bevölkerung. Die Ortsgruppen sind auch sonst für alles und
jedes zuständig. Man sieht die Ortsgruppenleiter mit ihrer Begleitung durch die
Straßen gehen und hier und da Anweisungen erteilen. Große Lebensmittelvorräte,
darüber hinaus Rauchwaren, Spirituosen und andere Genußmittel werden von den
Ortsgruppen sichergestellt. Die Ortsgruppen schwellen zu großen Bürobetrieben an,
wobei die bei ihnen Beschäftigten dort zugleich verpflegt werden und wohnen. Es
herrscht in den Ortsgruppen Tag und Nacht ein reges Leben, vor allem des Nachts,
wo Zigaretten, Schnaps und eine gewisse Weiblichkeit die erste Rolle spielen.

Nach dem Schreck der ersten Tage hatte man sich in die Lage gefunden, Lebens-
mittel waren genug vorhanden und wurden reichlich verteilt. Die Ortsgruppen
richteten auch neue Gaststätten zur Speisung der Bevölkerung ein. Im Kühlhaus
waren Fleisch, Butter, Speck, Eier und Käse in ausreichendem Maße vorhanden;
man hätte ohne weiteres neun Monate die Bevölkerung damit versorgen können.

Das Schloß wurde zur Verteidigung durch die SS hergerichtet. Am Paradeplatz wurden
in großer Eile neue Bunker betoniert und mit den vorhandenen Bunkern und Luftschutz-
kellern verbunden, so daß ein einheitliches System von Schutzräumen entstand,
welches die Parteileitung aufnehmen sollte. Die Zentrale lag in den Kellern des alten
Gerichtsgebäudes hinter dem Opernhaus. Gleichzeitig wurde an der Schaffung eines
Rettungsweges für die Mitglieder der Parteileitung gearbeitet. Als Fluchtweg aus der
belagerten Stadt sollte der große Abwässerkanal dienen, der im ehemaligen Volks-
garten in der Nähe des alten Ausfalltores beginnt und über Ratshof die Abwässer
bis zur Kläranlage Vierbrüderkrug bringt. Um den mannshohen Kanal für diese Zwecke
benutzbar zu machen, wurde seine Decke an zahlreichen Stellen durchschlagen; auf
diese Weise wurde frische Luft eingeführt. Tatsächlich haben sich Großherr, Fiedler
und andere Parteigrößen mit ihrem Anhang durch diesen Kanal aus der eingeschlosse-
nen Stadt retten und sich zu der im Samland kämpfenden Truppe hindurchschlagen
können.

Am 6. April beginnt der Angriff.

Nachdem die im Raum von Heiligenbeil noch kämpfenden deutschen Truppen in mehr-
tägiger Schlacht vernichtet waren, wandte sich der Russe gegen die Festung Königs-
berg. Mit zunehmendem Artilleriebeschuß gab es jetzt häufiger Opfer unter der Be-
völkerung; auch die Luftangriffe mehrten sich und oft lag Feuerschein und Rauch
über der Stadt. Die Nacht war durch zahlreiche langsam niedergehende Leuchtschirme
oft stundenlang erhellt. Das Leben wurde ungemütlich. Man verkroch sich wieder in
die Luftschutzkeller und Bunker, die man nach den ersten Tagen der Belagerung ver-
lassen hatte. Die Lockerung der staatlichen Ordnung in der belagerten Stadt, der
Gedanke, daß man dort über kurz oder lang den Russen in die Hände fallen werde,
das enge Wohnen in Kellern und Bunkern und die Tatsache, daß die Familien ausein-
andergerissen waren, alles das hatte allmählich ein bedenkliches Sinken der sittli-
chen Haltung zur Folge. Nicht nur in den Ortsgruppen hörte man von Orgien und
Exzessen schlimmster Art, auch in privaten Kreisen lockerten sich die sittlichen
Bindungen.

Ich war eine Zeit hindurch in Pillau beim Volkssturm eingesetzt. Nachdem die im
Samland kämpfenden Truppen mit Unterstützung der Kriegsmarine die Chaussee
Pillau – Königsberg wieder freigekämpft hatten, wurde ich vom Reichsverteidigungs-
kommissar Ost, der im Lotsenturm in Pillau seinen Sitz hatte, nach Königsberg
beordert, um dort Brunnen zu bohren. Ich wurde dem Direktor der Feuerwehrschule
Metgethen, Fiedler, unterstellt, der die unterirdischen Bunkerbauten am Paradeplatz
leitete. Ostern, es war der 1. April 1945, war ich nochmals zur Besprechung beim
Reichsverteidigungskommissar, und zwar beim Gauwirtschaftsberater Dr. Dzubba
in Pillau. Es ging täglich des Nachts ein Zug nach Pillau, der bei Metgethen-
Serappen häufig von den Russen beschossen wurde. Am 3. April hatte ich wegen
der Brunnenbohrungen im Stadthaus zu tun, und ich suchte bei dieser Gelegenheit
den Oberbürgermeister Dr. Will auf, dessen Diensträume in einem Bunker im Stadt-
haus lagen. Er war, wie einige der über den Tag hinausdenkenden Männer, in diesen
Tagen sehr niedergeschlagen und erzählte mir, daß die Sowjets soeben ein Ultimatum
an den Verteidiger der Festung, General Lasch, gerichtet hätten, die Festung bis zum
5. April abends zu übergeben. Das Ultimatum würde deutscherseits unbeantwortet
bleiben.

Tatsächlich beginnt am Freitag, 6. April, der Angriff der Russen. Man hört das un-
heimlich donnernde Rauschen der Stalinorgeln, so als ob ein schweres Gewitter all-
mählich im Abziehen wäre. Die Beschießung mit schwerer Artillerie führt zu starken
Beschädigungen, die Luftangriffe verstärken sich. Der Russe, der bis dahin unmit-
telbar vor der Ring-Chaussee stand, dringt überall vor. Nachrichten und alle mög-
lichen Gerüchte jagen sich. Unsere Truppen stehen nicht mehr. Man hört schwere
Detonationen in der Stadt. Die Pregelbrücken werden in die Luft gejagt; selbst die
kleinen Brücken an dem ehemaligen Festungsgraben und verschiedene ganz unbe-
deutende Überwege werden gesprengt. Man hat so das Gefühl, daß der Teil der
Bevölkerung, der die Belagerung überleben würde, kein Lebensrecht mehr haben
solle. Da meine Wohnung in der Tiergartenstraße von einer dort postierten Batterie
belegt ist, wohne ich im Luftschutzraum des Kühlhauses bei meinem Freund Rost.
Ein Leutnant hat den Auftrag, die Maschinenanlage im Kühlhaus zu sprengen, wird
aber von uns daran gehindert. Die Beschießung und die Luftangriffe nehmen immer
noch zu. Am Abend, wir sind gerade beim Abendbrot, wird das Kühlhaus von einer
Fliegerbombe getroffen. Der gewaltige Betonbau, der auf achtzehn Meter hohen
Rammpfählen gegründet ist, hält stand, weicht aber seitlich etwas aus: Ein unheim-
liches Gefühl für uns Bunkerbewohner.

Am Sonnabend, 7. April, abends um 19 Uhr, sprengen deutsche Pioniere die Reichs-
bahnbrücke am Holländer Baum. Die Sprengung gelingt schlecht, die Brücke wird
nur aufgerissen, wobei die eine Brückenhälfte ins Wasser hineinsinkt. Eine Stunde
später erkennen wir an Lichtsignalen, daß auf der anderen Pregelseite bereits der
Russe steht. Die Nacht wird fürchterlich. Unsere Truppen setzen sich ab, suchen
im Kühlhaus letzten Unterschlupf und ziehen sich dann auf den Veilchenberg, wo
unsere schweren Batterien stehen, zurück. Spät abends gibt es noch ein häßliches
Intermezzo: Eine Gesellschaft von Männern und Frauen, die den besseren Ständen
angehören, dringt ins Kühlhaus ein. Es kommt zu widerlichen alkoholischen und
sexuellen Exzessen. Jetzt habe ich das Gefühl, es ist alles zu Ende. Die sowjetische
Artillerie beschießt nun auch das Kühlhaus, so daß die Maschinisten und Heizer in
den Luftschutzkeller flüchten müssen. Sie haben, wie sie berichten, noch ordentlich
Kohle aufgeschmissen, und nun müssen wir sehen, wie lange die Lichtmaschine noch
Strom geben wird. Sie läuft noch stundenlang; allmählich erlischt dann die elektrische
Beleuchtung. Mit einigen Gaslampen wird der ausgedehnte Luftschutzkeller notdürftig
erleuchtet.

Russische Truppen dringen ein.

Um nicht von den sowjetischen Angreifern im Keller ausgeräuchert zu werden, befes-
tigen wir ein weißes Laken an einer Stange an der östlichen Verladerampe des Kühl-
hauses. Der Russe tastet sich nur langsam vor; erst am nächsten Tage, es ist Sonntag,
der 8. April 1945, mittags 12.20 Uhr, fällt für mich der eiserne Vorhang. Mongolische
Truppen dringen in unseren Keller und treiben uns trotz des mörderischen Artillerie-
beschusses ins Freie. Wir ducken uns an den Bahndamm des Bahnhofes Holländer
Baum, werden dann aber gezwungen, mit Frauen, Kindern und alten, gebrechlichen
Menschen über die gesprengte Reichsbahnbrücke zu klettern. An der Trennstelle in
der Mitte des Pregels, wo die Brücke aufgerissen ist, müssen wir auf einem fünf Meter
langen, wippenden Brett herüberbalancieren. Die deutschen Batterien auf dem Veilchen-
berg halten die Reichsbahnbrücke und die Aral-Tankstelle auf der anderen Pregelseite
unter Feuer. Wir sehen das Einschlagen der Granaten auf der Brücke und erhalten
manchen Spritzer aus dem Pregel, wir sehen die schrecklich zugerichteten Verletzten.
Katzenhaft kommen in langer Reihe die Mongolen über die Brücke geklettert. Sobald
sie herüber sind, können wir es wagen, in entgegengesetzter Richtung herüberzuturnen.
Es gelingt fast ohne Verluste. Wir überschreiten die Gleise des großen Verschiebebahn-
hofs am Nassen Garten und marschieren im langen Gänsemarsch zwischen den vor-
rückenden sowjetischen Truppen, die uns Uhren und Schmucksachen abnehmen, mitten
durch eine zum Angriff auffahrende russische Panzergruppe zur Brauerei Ponarth.
Betrunkene sowjetische Soldaten schießen auf uns Flüchtende. Diesem Blutbad fallen
einige Arbeiter des Gaswerks zum Opfer. Als wir den Damm an der Ponarther Eisenbahn-
brücke endlich hochklettern, werde ich mit anderen Deutschen festgenommen. Wir
werden in einem Haus der Ponarther Wiesenstraße eingesperrt. Es folgen Durchsuchungen
unserer Sachen, Vernehmungen, Plünderungen und in der Nacht die ersten Vergewaltigungen
unserer Frauen.

Als wir am nächsten Tag etwas ins Freie dürfen, sehen wir vor der Brauerei Ponarth mehrere
Stalinorgeln, die ihr Feuer auf unsere Stadt richten. Über dem Stadtinnern liegen dichte
Rauchwolken. Nach einigem Hin und Her werden wir zur Kaserne der Beobachtungsabteilung
in Ponarth gebracht. Dort befinden sich bereits ganze Familien, die sich in der Kaserne frei
bewegen, sie aber nicht verlassen dürfen. Am Tage beerdigen wir deutsche Gefallene und
begraben die Pferdeleichen und erhalten dafür von der Truppe Verpflegung. Nachts finden
in der Kaserne Massenvergewaltigungen unserer Frauen und Mädchen statt. Es ist das
Fürchterlichste, was ich in den drei Jahren erlebt habe. Das Schreien der Mädchen liegt
mir heute noch im Ohr. Wir versuchen die Stubentüren abzuschließen; es werden die
Türen gewaltsam eingedrückt. Wir schieben die großen Tische in den Kasernenstuben
zusammen, unter die sich dann die Frauen und Mädchen für die Nacht verkriechen. Wir
Männer setzen uns mit Sack und Pack um die Tische herum. Es nützt alles nichts. Mit Taschen-
lampen leuchten die Soldaten unter die Tische, ziehen die Frauen hervor und nehmen sie
mit nach ihrer Unterkunft. Ein Maurer aus Gerdauen, der neben mir auf dem Fußboden liegt,
hat die Gabe des zweiten Gesichts. Er „träumt alles ab“, wie er sagt. Es ist das erste Mal,
daß ich einem Menschen mit dieser unheimlichen Begabung begegne.

"Antreten ohne Gepäck !"

Eines Nachmittags gehen die Dolmetscher durch die Gänge der Kaserne und rufen den
Befehl des Kommandanten aus: "Antreten ohne Gepäck !" Wir glaubten, daß eine Bekannt-
machung erfolgen solle und ahnen nicht, daß wir nach namentlichem Aufruf der NKWD
übergeben werden. Diese führt uns, wie wir gehen und stehen, also ohne unsere Sachen,
in langem Zuge nach Rosenau, wo wir in den Kellern der noch in der Aweider Allee stehen-
den Häuser eingesperrt werden. Wir bleiben ohne jede Verpflegung. Drei Tage später
werden wir nach abermaligem Namensaufruf nach den Unteroffiziers-Wohnblocks der
Kaserne an der Neuendorfer Straße gebracht. Als wir die gewaltige Stacheldrahtumzäunung
sehen, wird es uns klar, daß wir Gefangene sind. Dort beginnt der Hunger, dort beginnen
die nächtlichen Vernehmungen und die schrecklichen Mißhandlungen.

Nach einigen Wochen werden wir nach dem NKWD-Lager der Kaserne in Rothenstein
verlegt, und nach abermals vierzehntägiger Haft geht es im endlosen Zuge, die Mehr-
zahl von uns bereits entkräftet und willenlos, hinaus; wir hoffen, nach den unzerstörten
Häusern auf den Hufen. Unser trauriger Zug geht durch die Händelstraße und hält vor
einem großen Tor. Der Gefängnishof des Gerichtsgefängnisses nimmt uns auf. Da ver-
sagen die Nerven. Wir sind fertig ! Das Unglaubliche war Tatsache: Trotz der fast
völligen Zerstörung der Stadt, trotz der Vernichtung des Gerichtsgebäudes am Hansa-
ring und des Polizeipräsidiums am Nordbahnhof waren das Gerichtsgefängnis und das
Polizeigefängnis unzerstört erhalten geblieben.

Ich komme mit einigen anderen in das Polizeigefängnis und erlebe dort schreckliche
Wochen und Monate. Ende Juli 1945 werde ich nach dreieinhalbmonatiger NKWD-Haft
wie durch ein Wunder als einer der ersten aus dem Gefängnis entlassen. Ich melde
mich bei der Zentralkommandantur in der Hardenbergstraße. Die Haftzeit liegt hinter
mir.

(Fortsetzung folgt).

Quelle: OSTPREUSSENBLATT, 20. Februar 1954

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Was geschah nun als der Russe die Stadt besetzte ? Zunächst erfolgte ein schwer
zu fassendes Aufhören alles bisher bestehenden. Ein Nichts trat an seine Stelle.
Die gewohnte Ordnung war dahin. Es gibt keine Lebensmittelversorgung, keine
Versorgung mit Strom, Gas und Wasser, keine Behörden, keine Geschäfte mehr,
die Stadt ist wie ausgestorben.

Wahllose Massenverhaftungen durch die NKWD folgten. Unbarmherzig wurden
Männer, Frauen und Kinder in die Gefängnisse geworfen. Bei uns im Polizeigefäng-
nis befanden sich unter uns Männern Schuljungen von zehn und elf Jahren. Gele-
gentlich erfolgte eine Freilassung, bald eine Wiederverhaftung durch die
"Hundefänger", wie wir die Soldaten mit der roten Armbinde nannten, die als
Patrouillen durch die Straßen gingen.

Eine Vertreibung der Bevölkerung aus den Wohnungen, bei der nichts mitgenommen
werden durfte, beraubte diese ihres gesamten Hausrats. In den ersten Tagen nach
der Einnahme wurden die Menschen vielfach in die Provinz geführt zu verschiedenen
Lagern, in denen ebenfalls Hunderte und Tausende wochen- und monatelang festge-
halten wurden. Auf diesen Märschen starben viele am Straßenrand. Berüchtigte
Sammelpunkte dieser Art waren Löwenhagen und Carnitten, das bekannte Mustergut,
dessen Besitzer im Gerichtsgefängnis verstarb. Darüber hinaus sind Tausende von
Königsbergern, vor allem auch Frauen, ins Innere Rußlands und bis nach Sibirien
verschleppt worden. Teils nahm die zurückgehende Truppe die Frauen zur Arbeit
und auch "zum Zeitvertreib" mit, teils erfolgte die Verschickung auf Veranlassung
irgendwelcher untergeordneten Stellen. Es ist eine der Merkwürdigkeiten der Sowjet-
union, daß untergeordnete Stellen, eine Zeitlang wenigstens, die Maßnahmen der
höheren Dienststellen einfach durchkreuzen können.

Am schlimmsten hatten es unsere Mädchen und Frauen. Es ist nicht zu schildern, mit
welcher Gier sich Russen auf unsere Frauen stürzten. Was auf sexuellem Gebiete an
Schrecklichem und Grausamen vorgekommen ist, darüber vermögen außer unseren
Frauen die Ärzte in den Kliniken Angaben zu machen, denen die Frauen auf den
Operationstisch gelegt wurden. Eine auf der Straße allein gehende Frau lief auch
am hellen Tage Gefahr, mit Gewalt in einen Keller gezerrt und mißbraucht zu werden.
Aber auch die Männer waren gelegentlich Belästigungen und Vergewaltigungen durch
Homosexuelle ausgesetzt. Wenn man dann an die Plünderungen und Beraubungen,
an Überfälle, Morde und Verbrechen aller Art denkt, die durch Angehörige der Sieger-
macht an der schutzlosen deutschen Bevölkerung verübt wurden, so ist es sehr zurück-
haltend ausgedrückt, wenn man sagt, daß ein Zustand völliger Rechtsunsicherheit
eingetreten war, ein Aufhören jeden Rechtsempfindens, welches uns bei jeder Gele-
genheit erkennen ließ, daß wir einem erbarmungslosen Feinde ausgeliefert waren.
Ich bin zweimal bei hellem Tage auf offener Straße von sowjetischen Soldaten ange-
halten und beraubt worden. Einmal wurde ich dabei niedergeschlagen und schwer
mißhandelt.

Zu allem Unglück kamen Krankheiten und Seuchen über die Bevölkerung. Eine Typhus-
epidemie raffte ungezählte Menschen dahin. Hungerödeme und Wassersucht waren
weit verbreitet. Es trat auch eine bis dahin unbekannte Seuche auf: die Malaria. Die
Überträgerin der Malaria, die Anopheles-Mücke, war seit jeher in den Sümpfen bei
Cranzbeeck und Schwentlund als harmloses Insekt bekannt. Als nun mit der Roten
Armee zahlreiche Malariakranke in das Land kamen, verrichtete diese Mücke nach
ihrer Infizierung ihre fürchterliche Arbeit und fand unter der ausgezehrten deutschen
Bevölkerung zahlreiche Opfer.

Die Leiden der Königsberger Bevölkerung bekamen ihren besonderen Ernst und ihre
fast untragbare Schwere durch die Hungerzeit, die allmählich einsetzte. Wenn in der
Zeit der Belagerung die Ernährung der Einwohnerschaft nicht verhältnismäßig gut
gewesen wäre, hätte wohl kaum jemand von uns diese Hungerzeit überstanden. In
den ersten Tagen und Wochen konnte man noch in den verlassenen Luftschutzkellern
hier und da Lebensmittelvorräte finden, dann war aber auch hier alles geplündert
und verschwunden. Als die Ernte reifte, gingen die Menschen hinaus, um Körner zu
sammeln. "Körner", das war unser Roggen. Er wurde auf der Kaffeemühle gemahlen
und diente zum Brotbacken und zur Bereitung der Speisen. Auch das lernten wir,
daß man Hafer, den die russischen Soldaten stahlen und uns verkauften, auf der
Kaffeemühle nicht mahlen konnte. Er mußte heiß gequollen und dann ein- oder
zweimal durch die Fleischmaschine geschickt werden. Ich denke noch oft an die
Abende, an denen ich, hundemüde, mich noch mit der Fleischmaschine abquälte,
die alle Augenblicke durch die sehr harten Schlauben verstopft war. Glücklich, wer
durch Beziehungen zu einer russischen Küche gelegentlich einen Teller voll „Kascha“
bekam.

Im Spätsommer 1945 gab es die ersten russischen Lebensmittelkarten in Königsberg.
Wer die Zeit miterlebt hat, wird aus den ersten Wochen das Roggenbrot mit dem
Petroleumgeschmack nicht vergessen können. Die russischen Bäckereien rieben die
Brotbleche mit „Salerka“, dem stark nach Petroleum duftenden Treibstoff ein, so
daß die Brote bis zur Ungenießbarkeit nach Petroleum rochen.

Bald bildete sich in Königsberg in der Hagenstraße, Ecke Luisenallee, der „Bazar“
ein schwarzer Markt, auf dem zu sehr hohen Preisen nicht nur Lebensmittel, sondern
auch Kleider und alle möglichen Sachen des täglichen Bedarfs und in ganz großem
Umfange alte Sachen zu kaufen waren. Dieser Bazar war behördlicherseits einger-
ichtet; wer dort kaufte und verkaufte, war nach sowjetischen Begriffen aber ein
„Spekulant“ und stellte sich so etwas außerhalb des Gesetzes. Die Polizei veran-
staltete wahllos Razzien und Durchsuchungen, obwohl die Verkäufer ein Markt-
standgeld entrichten mußten. Das Gefühl der Rechtsunsicherheit trat besonders
in dem Bazar in Erscheinung. Andererseits bot der Bazar vielen Deutschen, die als
Kaufleute, Beamte und Angehörige freier Berufe im staatskapitalistischen Wirtschafts-
system keine Existenzberechtigung hatten, durch den Verkauf von Zigaretten, Schoko-
lade, Lebensmitteln, Schmuck und alten Sachen eine Verdienstmöglichkeit. Vor allem
gab der "Lumpenmarkt", wie wir ihn nannten, Gelegenheit, die unmöglichsten alten
Klamotten gegen Geld loszuwerden. Der Bazar wurde später an einen freien Platz
an der Schleiermacherstraße verlegt und befand sich zuletzt in dem ausgedehnten
Hof der Kürassier-Kaserne an der Wrangelstraße. Dort war ein großer Handelsverkehr v
or allen Dingen an Sonntagen im Gange, der vielen Deutschen über die schreckliche
Zeit hinweghalf.
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