Der bombardierte Kutter „Samland“
Was der Fischer Hermann Reese aus Cranz mit seinen Booten in der Nordsee erlebte
Das Seebad Cranz besaß eine kleine Fischereiflottille. Etwa 20 bis 25 Boote lagen am Strand; da hier
keine Hafenanlagen vorhanden waren, mussten diese mit Hilfe von Winden auf Land und beim Sturm
sogar bis auf die Dünen gezogen werden. Das größte Boot gehörte Hermann Reese; es war ein
Motorboot, während dort sonst die leichter transportierbaren Segelboote vorgezogen wurden.
Der Arbeitstag einer ostpreußischen Fischersfrau
Die Reeses waren eine der siebzig Cranzer Fischerfamilien. Der Beruf vererbte sich vom Vater auf
den Sohn. Im Frühjahr fing man Strömlinge und die kostbaren Lachse in Treibnetzen, im Sommer
Flundern in Netzen und Aale an Angeln, im Winter Dorsche und Lachse an der Angel. Arbeit gab es
während des ganzen Jahres. Viel Arbeit erforderte die Ausbesserung der viele Kilometer langen
Angeltaue und der Netze.
Frau Reese half ihrem Mann, wo sie konnte. Sie hatte es nicht leicht, acht Kinder waren
großzuziehen, zu sättigen und bekleiden. Die Fische mussten sortiert werden; eine große Anzahl,
besonders im Sommer wurde geräuchert. Zuvor waren sie auszunehmen, zu reinigen und zu
trocknen. Mehrstündige Aufwartung verlangte jedes Mal das Räuchern. Das Material hierfür wurde
selbst im Walde beschafft — das ließ sich keine tüchtige Fischersfrau nehmen. Es gab hier gewiss
kleine Kniffe zu beachten, und die erfahrenen Räucherinnen wussten, ob sie Hartholz, kieniges Holz,
Fichtennadeln oder „Kienäpfel" verwenden sollten. Im Sommer wurden die fettglänzenden „Cranzer
Speckflundern" den Kurgästen und Ausflüglern zum Verkauf angeboten, und die Königsberger
schätzten diese Leckerbissen sehr.
Eine weitere Erwerbsquelle erschloss sich den Fischern, wie allen Cranzern, durch die Beherbergung
von Kurgästen. Die Reeses hatten sich zwei Häuser mit insgesamt zwanzig vermietbaren Wohnungen
erarbeitet. Die Instandhaltung der Zimmer und die Vorbereitungen für die Saison beanspruchten
ebenfalls die Kräfte und die Zeit der Hausfrau. Der sich mehrende Wohlstand war kein Geschenk des
Zufalls.
Am 27. Januar 1945 verließen die Reeses ihre Heimat. Nach langem Herumirren fanden sie ihre
Kinder in Niendorf an der Ostsee wieder, die aus Neukuhren mit dem Kutter hatten flüchten können.
Ihnen war die Rettung von einigen wertvollen Dingen gelungen, was von Cranz aus nicht möglich
gewesen wäre, da in jenen unheilvollen Tagen ein Eisgürtel die dortige Küste blockierte. Im Zuge der
Umsiedlung der Helgoländer Fischer wurde der Reesesche Kutter nach Hörnum an der Südspitze von
Sylt verlegt.
Das Boot war stark reparaturbedürftig und so ging es am 22. Januar 1947 in See; es sollte auf einer
Hamburger Werft zur Überholung aufgelegt werden. Es konnte mit eigener Kraft fahren, und als Eis
die Elbeeinfahrt blockierte, war ein Schlepper zur Stelle. Sonst wäre es sehr böse ausgegangen, denn
der im Schlepp gezogene Kutter wurde durch das Eis derart havariert, dass er im Nu absoff. Nur
Sekunden vor dem Untergang konnte Hermann Reese an Bord des Schleppers gezogen werden.
Noch heute liegt der Kutter in 22 Meter Tiefe.
Vier Meter neben der „Samland" detoniert
Die Unglücksserie ließ nicht ab. Man musste leben und wollte arbeiten. Die Reeses verschafften sich
ein segeltüchtiges Ruderboot und fischten in der Nähe von Hörnum Makrelen und Muscheln. Am 5.
Januar 1948 — fast ein Jahr nach dem ersten Unglück — fuhren sie zu zweien im Wattenmeer
zwischen Puan Klent und Rantum an den Muschelbänken. In den Abendstunden setzte ein mächtiger
Weststurm ein, der die Segel fortschlug. Der das Boot gegen die anstürmenden Wellen in
Windrichtung haltende Anker riss ab. Die beiden Männer kappten den Mast, um das gefährdete
Fahrzeug seetüchtig zu erhalten und warfen die Muschelbeute über Bord. Das Schiff wurde durch die
dunkle Winternacht getrieben und im Morgengrauen auf der Festlandseite an Land geworfen.
Gänzlich durchnässt, erstarrt vor Kälte und hundemüde schleppten sich die Männer über den Deich,
wo sie bei gutherzigen Menschen Hilfe fanden. Eine Nacht des Schreckens lag hinter ihnen.
Hermann Reese erwarb einen Marinekutter, aber dieser musste umgebaut werden! Woher nach der
Währungsreform das Geld nehmen? Auch das wurde geschafft. „Samland soll er heißen!“ hatte der
alte Cranzer Fischer gesagt und mit Hoffnung betrachtete er das Schiff. Es war zwölf Meter lang und
3,20 Meter breit und hatte einen Tiefgang von 1,25 Meter. Der Motor erwies sich als zu schwach; es
gelang einen neuen zu besorgen.
Am Donnerstag, dem 11. Oktober dieses Jahres, war die „Samland" zu den Hummergründen bei
Helgoland ausgelaufen und lag in Landnähe vor Anker, als ein Sturm aufkam. Wie auch Helgoländer
Fischereifahrzeuge, so suchte die „Samland" im Hafen von Helgoland Schutz, obwohl eine Pause der
Bombardierung erst ab Freitag über das Wochenende zu erwarten war. Die Elemente zwangen die
Fischer, den Hafen trotzdem anzulaufen.
Als um 21 Uhr Motorengeräusch zu hören war, flüchtete die Mehrzahl der Helgoländer Fischer aus
ihrem Heimathafen. Die „Samland" kam nicht so schnell klar, da ein Zylinder der Motors streikte. Da
fielen auch bereits die Bomben; eine traf die Pier und detonierte in vier Meter Abstand von der
„Samland". Hermann Reese war zunächst völlig taub und es stellte sich heraus, dass sein rechtes
Trommelfell durch die Detonation verletzt worden war. Sonst kamen er und sein Sohn mit dem
Schrecken davon, weil ein Nachzügler der Helgoländer die beiden Schiffbrüchigen aufnehmen konnte.
Kein Ersatz — 19 000 DM Belastung
Die „Samland" wurde am nächsten Tag treibend vorgefunden. Masten und Takelage waren abrasiert,
das Steuerhaus — neben dem Hermann Reese gerade gestanden hatte als die Bombe fiel — war arg
beschädigt, wie auch Reeling und Planken. Wohl nur dem Umstand, dass die Pier über das Boot
ragte, hatten es die Reeses zu verdanken, dass sie nicht mitsamt ihrem Schiff zerfetzt worden waren.
Es wird nicht gelingen, aus eigener Kraft den stark beschädigten Kutter wieder seetüchtig zu machen.
Die Versicherung lehnte eine Beihilfe oder Schadensersatz mit der Begründung ab, dass das
Anlaufen des Hafens Helgoland auf eigene Gefahr erfolgt sei. Dabei geschah es aus Not, um einer
anderen Gefahr zu entgehen.
Was bleibt nun Hermann Reese nach einem arbeitsreichen Leben? Tapfer hat er immer wieder
versucht, das Schicksal zu wenden. Jetzt ist der Siebzigjährige wieder in Armut gestoßen, denn der
einst wohlhabende Cranzer Fischer ist heute nur noch der Schiffsführer eines stark demolierten
Kutters, auf dem 19 000 DM Darlehen lasten. Und doch — er streicht die Segel nicht! Im Herzen ist
immer noch Hoffnung. Karl Wendt.
Quelle: OSTPREUSSENBLATT, 25.11.1951
Reese aus Cranz. Kinder in Niendorf an der Ostsee.
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