Das Schicksal eines ostpreußischen Mädchens.

Das Schicksal eines ostpreußischen Mädchens.

Beitragvon -sd- » 25.05.2021, 09:25

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Als Verbannte in Baranowicze.
Das Schicksal eines ostpreußischen Mädchens.


Im Durchgangslager Friedland bei Göttingen traf dieser Tage ein zweiundzwanzigjähriges
Mädchen ein, das zu jenen deutschen Frauen gehörte, welche trotz ihrer auf dem Papier
bescheinigten Freilassung noch immer in der Sowjetunion festgehalten werden. Das See-
bad Cranz an der Küste des Samlands war ihre Heimat, aus der sie 1945 als dreizehnjäh-
riges Kind weit in das Innere der Sowjetunion verschleppt wurde. Mit vielen anderen ost-
deutschen Frauen und Mädchen kam sie in ein Lager und wurde zu fünf Jahren Zwangs-
arbeit verurteilt. Nur wie durch ein Wunder überstand die kleine Ostpreußin diese schwere
Zeit. Endlich schlug die Stunde, zu der die Schreckenszeit beendet sein sollte. Tatsächlich
wurde sie aus dem Lager entlassen. Aber man gab ihr nicht den Fahrschein für die Rück-
kehr nach Deutschland, sondern zwang sie, in Baranowicze, einer jetzt zur Sowjetunion
gehörenden, früher ostpolnischen Stadt, wohnhaft zu bleiben. Als Begründung für diese
Maßnahme wurde angegeben, daß sie nicht in ihre Heimat zurückkehren könne.

In Baranowicze bekam die Ostpreußin zusammen mit drei anderen Mädchen ein Zimmer
angewiesen, für das jedes Mädchen 25 Rubel Miete zahlen mußte. Zwar gab es Licht in
dem Raum, aber das Wasser mußte man sich aus einem Ziehbrunnen auf dem Hof holen.
Als Arbeit wurde eine Beschäftigung auf Baustellen angewiesen. Der Lohn betrug, wenn
unter Aufbietung aller Kräfte die Norm erfüllt wurde, etwa 200 Rubel monatlich. Wenn
auch einfaches Schwarzbrot nicht sehr teuer war — ein Kilo kostete 2,35 Rubel —, so
waren die Preise für andere Lebensmittel bedeutend höher. Für ein Kilo Margarine mußte
man 10,5 Rubel zahlen, ein Kilo Zucker kostete 13 Rubel und für ein Kilo Salzheringe
wurden sogar 25 Rubel verlangt. Das Kilogramm Kartoffeln kostete sieben Rubel. „Mein
Hauptnahrungsmittel war deshalb eigentlich nur Brot", berichtete die Heimkehrerin.

Während in der Stadt Baranowicze ein lebhafter Andrang von Arbeitskräften zu beob-
achten war, herrschte auf dem Lande starker Arbeitermangel. Die junge männliche
Bevölkerung geht lieber in die Stadt, weil die Landarbeit schlecht entlohnt wird. Das
Straßenbild der Stadt wird von vielen Bettlern beherrscht, welche meistens Kriegs-
invaliden sind, die nur eine geringe oder auch gar keine Rente erhalten. Ganze Banden
von Dieben und streunenden Kindern machen die Umgebung unsicher.

Mehrfach wurde das ostpreußische Mädchen von den örtlichen Polizeistellen aufge-
fordert, die sowjetische Staatsbürgerschaft anzunehmen. Man versprach ihr volle
Freizügigkeit und gute Arbeitsbedingungen. Obwohl diese Angebote immer dringlicher
vorgebracht wurden, gelang es dem Mädchen, sie abzulehnen.

Nach ihrer überraschenden Freilassung fuhr die Ostpreußin zu Verwandten, die nach
ihrer Vertreibung aus der Heimat in der Sowjetzone ansässig wurden. Dort ordnete
die Volkspolizei sofort strenge Überwachung der Heimkehrerin an, um zu verhindern,
daß sie über ihr Schicksal und ihre Eindrücke in Rußland berichtete; deshalb verließ
sie die Zone und kam in die Bundesrepublik.

Quelle: OSTPREUSSENBLATT, 3. Juli 1954

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