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Ein Augenzeugenbericht vom Untergang des Flüchtlingsschiffes.
In der Nacht vom 30. zum 31. Januar 1945 sank in der Ostsee auf der Höhe von Stolpmünde,
etwa zwanzig Seemeilen von der Küste entfernt, nach drei Torpedotreffern eines sowjetischen
U-Boots der 26 000-Tonnen-Dampfer 'Wilhelm Gustloff'. Er nahm etwa 4.500 Flüchtlinge aus
Ost- und Westpreußen sowie Verwundete aus Wehrmachtslazaretten mit sich in die Tiefe.
Nur wenige hundert Menschen überlebten diesen grauenhaften Schiffsuntergang.
In Oldenburg lebt eine aus Elbing stammende Mutter mit ihren drei Kindern, die eine der
wenigen Überlebenden der Gustloff-Katastrophe ist.
Schon die überstürzte, kopflose Evakuierung aus Elbing am 24. Januar 1945 mit dem an-
schließenden Fluchtweg bis Danzig war für eine Mutter mit drei kleinen Kindern von kaum
zwei, drei und fünf Jahren eine Kette von Sorgen und Schrecken. Aber noch gab man sich
einer selbsttrügerischen Hoffnung und einem fadenscheinigen Sicherheitsgefühl hin, weil
man noch nicht begreifen konnte, was hier an der Weichsel begann.
Zum ersten Mal ließ der nächtliche Fliegerangriff auf Danzig am 26./27 Januar 1945 die
Kinder unruhig werden, und das mütterliche Bangen wurde noch verstärkt durch die Un-
gewißheit um das Schicksal des wenige Tage zuvor einberufenen Ehemannes. Quälende
Unruhe trieb weiter, nach Gotenhafen, wo bergende Schiffe abgehen sollten. Zehntausende
hofften auf sie. Es schien aussichtslos für eine Frau, die brodelnde, gärende Menschen-
masse, die bei Schneesturm und Eiseskälte die Kaianlagen füllte, zu überwinden, ge-
schweige denn auf eines der wenigen Schiffe zu gelangen. Aber das Elendshäufchen der
frierenden, weinenden Kinder ließ Soldaten aufmerksam werden, und ehe die Mutter noch
ihr Glück begriffen hatte, war sie am Sonntagnachmittag auf der 'Gustloff' eingeschifft,
die zwei Tage vor ihrer Abfahrt noch keineswegs überbelegt schien.
Kabine 14 nahm Mutter und Kinder auf, umgab sie trostlos mit Sauberkeit und Wärme.
Eine werdende Mutter war die Kabinengenossin. Die Frauen fühlten sich geborgen in der
Ordnung des Schiffslebens. Sie sahen nicht viel von der wachsenden Überfüllung mit neuen
Fahrgästen. Die Lautsprecherdurchsagen in den Decks und auf den Gängen über das Ver-
halten der Fahrgäste bei Alarm - Anlegen der Schwimmwesten und bekleidet schlafen -
waren wohl ein wenig unheimlich und ließen bange Ahnungen aufsteigen. Aber die Mehr-
zahl der Menschen um sie her war glücklich, einen Schiffsplatz erobert zu haben und gab
sich betont sorglos. Das beruhigte wiederum.
Als die 'Wilhelm Gustloff' am Spätnachmittag des 30. Januar 1945 auslief, befanden sich
über 5.500 Personen an Bord. Frau Sch. hatte ihre Kinder angekleidet auf den Schwimm-
westen in eine Koje gelegt; sie selbst hatte sich auf einem Sofa ausgestreckt. Ohne
Unruhe lauschte sie auf das gleichmäßige Geräusch der Maschinen. Kurz nach 21 Uhr
ging ein dumpfer Schlag durch das Schiff, und das Licht erlosch. Sekunden später folgte
ein zweiter Einschlag, und auf den Gängen war Lärm zu hören. Instinktiv war die Mutter
aufgesprungen, hatte mit fliegenden Händen ihre Kleinen hochgerissen und brachte deren
Kleidung in Ordnung, griff schon nach Mantel und Decken, ehe noch der dritte Einschlag
spürbar war. In dem anschwellenden Lärm auf den unteren Decks stürzte sie auf den Gang,
in dem vom Luftdruck zersplitterte Scherben und abgerissene Gegenstände lagen. Das
Licht brannte wieder. Der Boden neigte sich leicht, sie stolperte oft, ehe sie die Treppe
erreichten. Mit dem Kleinsten auf dem Arm, die anderen Kinder an der Hand, folgte die
Mutter nur dem Trieb, an Deck zu gelangen.
Sie waren unter den ersten Fahrgästen auf dem Bootsdeck. Leicht legte sich das Schiff
nach Backbord. Es war für die Frau schwierig, auf den vereisten Planken zur erhöhten
Steuerbordreling zu gelangen. Mehrfach stürzte sie, zerschlug sich die Knie. Ein Wunder,
daß die Kinder nicht weinten. Jetzt stand sie mit ihnen an der Reling. Ein junges Mädchen
war neben ihr und half ihr bei den Kleinen, die zu jammern begannen. Der Kleinste hatte
die Schuhe verloren, die Mäntel der anderen waren zu ordnen. Hinter ihnen aber begann
die Hölle zu toben.
Menschen in wahnwitzigem Schrecken drängten und schrien. Halbbekleidet, mit irren
Augen, schreiend, tobend, einer den andern mit Gewalt zurückdrängend. Frauen, Kinder,
Soldaten, Verwundete mit blutigen, abgerissenen Verbänden nahm ihr Blick wahr. Ein
brüllender Mann mit verzerrtem Gesicht suchte sie von der Reling fortzureißen. Sie
spürte nicht die Anstrengung, mit der sie sich um das Gestänge klammerte. Sie war
ruhig, seltsam und unwirklich ruhig und sah nur auf den Kleinen, der sich verängstigt
an sie schmiegte, auf die Kinder, die ihr Körper schützte. — Waren es Minuten ? —
Da hing das Boot vor ihnen frei in den Davits. Kommandos suchten durchzudringen.
Das Heulen der angstgepeinigten Masse um sie, ihr Schlagen, Drängen, Beißen vernahm
sie kaum. Sie reichte einem der Männer im Boot ihren kleinen Erwin hinüber, andere
Hände packten Jutta und Gert, dann war sie selbst im Boot, neben den Kindern. Wie
sie diese auf dem Bootsboden eingehüllt hatte, blieb ihr immer unklar. Aber deutlich
hörte sie das scharrende Geräusch, mit dem das Rettungsboot an der Bordwand entlang
schleifte. Die Schlagseite zwang die Männer, mit aller Kraft das hinabgleitende Boot
vom Schiffsrumpf abzudrücken.
Sie schwammen ! Trieben fort vom dunklen Schiff. Es war starker Seegang, und das
Schlingern des Bootes war ihr unangenehm. Sie hielt die Kinder umschlungen und sah
nach der Gustloff, an deren geneigter Wand Menschen klebten wie Käfer. An Tauen
ließen sie sich herab, schwammen im eisigen Wasser. Und über diesem, nur in verwor-
renen Einzelbildern in ihrem Gedächtnis haftenden Eindruck lag eine Wolke von schrillem,
durchdringendem Geschrei, das der Sturm zerriß, stiegen vom Vorschiff Leuchtkugeln
in den Himmel ohne Sterne.
Ein paar Mal trieben Schlauchboote vorbei, gefüllt mit dunklen Menschenknäueln. Für
Augenblicke glaubte sie auch entfernt ein zweites Rettungsboot zu sehen. Sie hörte
Kinderstimmen aus dem Wasser jammervoll nach der Mutter rufen, sah Menschen
auf ihr Boot zuschwimmen, Hände, die nach dem Bootsrand griffen und sich wieder
lösten. Vor ihr zogen sie einige ins Boot. Ein Mann rückte von einer Wasser triefenden
Person ab und zog eine Decke um sich. Gurgelnde Hilfeschreie der sich an den Boots-
leinen Haltenden erstarben. Für lange Zeit war ihr Auge gebannt von zwei Händen,
deren Finger in den Bootsrand gekrallt waren, seltsam verbogene Hände. „Nur ein
Riemen an Bord", hörte sie einen Mann sagen. Da wußte sie, daß ihr Boot nicht rudern
konnte, doch es berührte sie nicht.
Was empfand sie überhaupt ? — Hatte sie Furcht ? — In jenen Stunden des Grauens
wußte sie es nicht, weiß es auch heute noch nicht. — Ganz sicher hat sie schon an der
Reling kein Bewußtsein einer drohenden Gefahr gehabt, hatte es auch im Boot nicht.
In ihr war eine Stille, ein Abgewendetsein von allen Todesschauern umher, daß sie sich
selbst fremd erschien. In ihr waren alle Sinne gespannt, als ob sie jeden Moment handeln
müsse. Sie hatte vom Augenblick des Einschlages nur dem inneren Drange gehorcht,
mechanisch, instinktiv, hatte nur alle Gedanken auf die Kinder gerichtet und nicht
Todesschrecken, Grausen, Eiseskälte und Nässe gefühlt.
Da lagen die Kinder, eng aneinander, ruhig schlafend unter den Decken, fern allem
tausendfachen Tod umher und ihm doch noch so nahe. Da sie die Kinder geborgen wußte,
fühlte sie auch wieder das Schlingern und Stampfen des treibenden Bootes physisch un-
angenehm, bis zur Übelkeit.
Wie lange sie trieben, eine oder mehrere Stunden ? — In der Frau war kein Empfinden
dafür, selbst die Zahl der Bootsinsassen, 25 oder 35, ist ihr nie deutlich geworden. Auf
der 'Gustloff' brannten plötzlich wieder die Lichter. Zugleich hörte sie ein Krachen —
Wasserbomben, die nach dem U-Boot geworfen wurden - und die von diesen Explosionen
sich dem Boot mitteilenden Erschütterungen ließen sie ein erstes Schreckgefühl empfinden.
Unauslöschlich, mit fotografischer Genauigkeit haben sich die letzten Augenblicke des
untergehenden Schiffes in die Seele dieser Frau gegraben. Sie sah die 'Wilhelm Gustloff'
sich zur Seite neigen, dreimal heulte schaurig ihr Nebelhorn, dann ging sie kenternd, mit
emporreckendem Bug unter. Auf der Spitze noch einige Menschen, die die Wellen fort-
spülten. Ein Wasserschwall, und nichts mehr als Stille und Dunkelheit.
Im Boot fiel selten ein gedämpftes Wort. Die zusammengekauerten Gestalten bewegten
sich kaum. Als der erste Scheinwerfer aufblitzte, — kein anderes Schiff hatten sie bisher
bemerkt —, riefen sie im Chor um Hilfe.
Die Kinder schliefen zu Füßen ihrer Mutter, friedlich und warm. Sie hatten, aus dem Schlaf
gerissen, die letzten Stunden nur schlaftrunken, wie im Traume durchlebt und wußten nichts
von Gefahr und Tod.
Im grauenden Morgen war ein Torpedoboot dicht neben ihnen. Auch ein zweites Boot von der
'Gustloff' ruderte heran. Es war beschwerlich und nicht gefahrlos, bei dem schweren Seegang
die Schiffbrüchigen zu bergen. Frau Sch. hielt nacheinander ihre drei Kinder den sich ent-
gegenreckenden Händen hin, wußte sie nun ganz in Sicherheit. Stand selbst auf den eisglatten
Deckplatten. Als sie im Mannschaftslogis Wärme, Fürsorge, menschliches Bemühen fühlte,
wich auch die Starre von ihr, kam die Reaktion als schwerer Ausbruch aller zurückgedrängten
Gefühle. Das war entsetzlich, aber auch wie erlösend.
In Kolberg gelandet, mit der notwendigsten Bekleidung versehen, auf den weiteren Weg nach
Westen gebracht, verklang die Erregung der Schreckensnacht in dem Totentanz der letzten
Kriegsereignisse bald. — Gottlob, die Kinder hatten keinen Schaden gelitten. Nicht einmal
eine Erkältung behielten sie zurück.
Gnadenreich hatte eine höhere Macht Mutter und Kinder bewahrt. Vier Menschen waren von
der 'Gustloff'-Katastrophe gnädig errettet. Vier von den wenigen hundert Geretteten. Wer
spricht heute noch von ihnen ? Wer überdenkt die grauenvolle Tragik nicht nur der 4.500
Opfer dieses einen Schiffsuntergangs, sondern der mindestens 20.000 Menschen, die mit
den Flüchtlingsschiffen aus Ost- und Westpreußen vor fünf Jahren untergingen ?
Dr. Max Krause
Am 10. Februar 1945 ging, ebenfalls vor der pommerschen Küste, 'General Steuben' unter,
etwa 2.700 Menschen ertranken. Die größte Katastrophe war der Untergang der 'Goya' vor
Pommern am 17. April 1945; von 7.000 Menschen, die sich an Bord befanden, konnten nur
170 gerettet werden.
Quelle: WIR OSTPREUSSEN, 5. Februar 1950
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