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Matthias Müller 'Die SPD und die Vertriebenenverbände 1949-1977.'
Eintracht, Entfremdung, Zwietracht (= Politik und Geschichte 8).
Berlin: LIT Verlag 2012. ISBN 978-3-643-11786-1; 603 S.; EUR 59,90.
Rezensiert von Max Bloch, Köln.
Die vorliegende Arbeit, mit der Matthias Müller in Gießen promoviert
worden ist, widmet sich einer bis heute nachwirkenden Beziehungs-
geschichte. Das Verhältnis zwischen SPD und Vertriebenenverbänden,
das der Autor für die Jahre 1949 bis 1977 untersucht, war tatsächlich
wechselvoll. Eintracht, Entfremdung, Zwietracht - auf diese Nenner
bringt er die drei Etappen, die jenes Verhältnis im Untersuchungszeit-
raum durchlief, bevor es in einer "politischen Eiszeit" (Erika Steinbach)
erstarrte, die erst durch den Auftritt Otto Schilys auf dem "Tag der
Heimat" 2005 der Bereitschaft zum Dialog und Neuanfang wich.
Diesen Neuanfang, der sich in der Zusammenarbeit von SPD und
Bund der Vertriebenen (BdV) im Rahmen der Stiftung Flucht, Vertrei-
bung, Versöhnung niederschlägt, will Müller befördern - und so ist
seine Dissertation auch aus dem aktuell-ambitionierten Wunsch
heraus geschrieben, durch Erforschung einer nicht ganz einfachen
Vergangenheit Steine aus dem Weg zu räumen und seinerseits zur
Versöhnung der beiden Gruppen, SPD und BdV, beizutragen. Zu die-
sem Zweck hat er die relevanten Bestände des BdV-Archivs und des
Archivs der sozialen Demokratie (AdsD), beide in Bonn angesiedelt,
ausgewertet und die Geschichte einer Entfremdung, die teilweise
auf realen Divergenzen, teilweise auf Mißverständnissen beruhte,
konzise nachgezeichnet. Selbst wenn man die normative Perspek-
tive des Autors nicht unbedingt teilen muß, ist seine Analyse
gewinnbringend.
Den Prolog widmet Müller dem Verhältnis von SPD und Vertriebenen
1949 bis 1959. Im Oktober 1945 gab der Parteivorsitzende Kurt
Schumacher seine "Quadratmeterlösung" als politische Leitlinie
aus und markierte damit die vertriebenenpolitische Generallinie
der SPD für die kommenden 15 Jahre: Auf einer künftigen Friedens-
konferenz werde am Verhandlungstisch um jeden Quadratmeter
deutschen Bodens gekämpft; anders als Kanzler Adenauer werde
die SPD - die Partei der Entrechteten, die somit auch die Partei
der Vertriebenen sei - die deutschen Ostgebiete niemals der
Westbindung opfern. Im Ringen um die soziale Ausgestaltung der
Vertriebenengesetze zogen die Bundestagsfraktionen von SPD
und Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten (BHE), die
in zahlreichen Bundesländern Regierungspartner waren, an einem
Strang. Gleichwohl blieb auch die SPD von den vertriebenenpoli-
tischen Spannungen, die die Gesellschaft der frühen Bundes-
republik prägten, nicht verschont: 1958 drohte Wenzel Jaksch,
der als Vorsitzender der sozialdemokratischen Seliger-Gemeinde
eine Schlüsselposition im Verhältnis der SPD zu den Vertriebenen-
organisationen innehatte, vernehmlich mit seinem Parteiaustritt.
Er sah die Gefahr, daß die SPD zu einer "westdeutschen Regional-
partei" verkommen und die gesamtdeutsche Perspektive unter
dem Druck ihres linken Flügels aus den Augen verlieren könnte.
Noch konnte Jaksch besänftigt, konnten die Risse gekittet werden.
Doch lieferten sie, wie Müller schreibt, einen "Vorgeschmack"
auf kommende Zerwürfnisse (S. 97).
Auf 1960 datiert Müller den Beginn der "Eintrachts"-Phase.
Gerade um beginnenden Irritationen zu begegnen, startete die
SPD eine regelrechte "Charmeoffensive" gegenüber den Vertriebe-
nenverbänden: Ein 1963 an das Deutschlandtreffen der Schlesier
adressiertes Grußwort mit dem Titel "Verzicht ist Verrat" ist ver-
mutlich von Ollenhauer, Wehner und Brandt zwar nicht persönlich
gegengezeichnet, aber auch nicht dementiert worden. Der Karls-
ruher SPD-Parteitag von 1964 tagte unter einem Emblem, das
Deutschland in den Grenzen von 1937 sowie den Slogan "Erbe
und Auftrag" zeigte. Die Wahl Wenzel Jakschs zum Vorsitzenden
des BdV im selben Jahr wurde von der Parteiführung als Frucht
dieses vertriebenenpolitischen Werbens begrüßt. Die SPD hatte
mit Willy Brandt einen jungen, telegenen Vorsitzenden und
Kanzlerkandidaten, der - neben Herbert Wehner - bis in die
Mitte der 1960er-Jahre als besonderer Vertrauensmann der
Vertriebenenverbände galt. Daß er, ohne dies den Verbänden
gegenüber zu kommunizieren, im Grunde schon längst nicht
mehr an die Erfüllbarkeit ihrer heimatpolitischen Wünsche
glaubte, daß er, wie Egon Bahr bekrittelte, zu "Gummi-
Formeln" griff, "in denen sich beide Meinungen unterbringen"
ließen (S. 258), daß er sich also an die Vorbereitung seiner
Ostpolitik machte, ohne es sich mit den Vertriebenen, die
auch Wähler waren, verderben zu wollen - dieser Eindruck
wird durch die Lektüre von Müllers Studie verstärkt. Ein
höheres Maß an Ehrlichkeit und Empathie, so Müller, hätte
späteren Friktionen vorbeugen können, zumindest aber dem
subjektiven Empfinden vieler Verbandspolitiker, von Brandt
persönlich getäuscht und verraten worden zu sein.
Die zweite Phase, die "Entfremdung", setzt mit dem Nürn-
berger Parteitag von 1966 ein. Erst hier, impliziert Müller,
ließ Brandt die Maske fallen und mahnte faktisch die Aner-
kennung der Oder-Neiße-Grenze an - zwei Jahre, nachdem
man die Grenzen von 1937 noch ins Gedächtnis gerufen
hatte. Dem waren verschiedene Initiativen prominenter
Sozialdemokraten vorangegangen; neben Bahr wären etwa
Fritz Erler, Helmut Schmidt und Klaus Schütz zu nennen, die
die allzu enge Bindung der SPD an die Vertriebeneninteressen
offensiv hinterfragten. Von den Verbänden wurde der Nürn-
berger Parteitag nicht nur als Schwenk, sondern als grund-
sätzlicher Bruch mit der bisherigen Politik der SPD gewertet.
Reinhold Rehs, SPD-Bundestagsabgeordneter und Nachfolger
des im selben Jahr tödlich verunglückten Jaksch als BdV-
Vorsitzender, sprach von einer "Desavouierung" seiner ge-
samten vertriebenenpolitischen Arbeit. Drei Jahre später
trat er aus der SPD aus und zur CDU über. Andere folgten
seinem Beispiel: Herbert Hupka, Franz Seume und Kraffto
von Metnitz.
Rehs war der letzte BdV-Vorsitzende mit SPD-Parteibuch, und
sein Parteiaustritt war ein sinnreiches Zeichen jener "Zwietracht"
zwischen SPD und BdV, die mit fortschreitendem Erfolg der
sozialliberalen Ostpolitik in schäumende Feindschaft überging
und deren Auswirkungen noch heute spürbar sind. Spätestens
seit der Wahl Brandts zum Bundeskanzler schien die Kluft kaum
mehr zu überbrücken. Die Gründe hierfür sieht Müller einer-
seits in der ostpolitischen Verhärtung des BdV, andererseits
in der Unaufrichtigkeit der SPD, die - entgegen den gebets-
mühlenartigen Beteuerungen Brandts - eben doch Politik
"hinter dem Rücken der Vertriebenen" gemacht habe.
Müllers Studie geht dem Verhältnis von SPD und Vertriebenen-
verbänden in erhellender Weise nach - gerade deshalb hätte
sie größere Umsicht und ein Lektorat verdient (auf das sie
offenbar verzichten mußte): Zahllose Flüchtigkeits- und Tipp-
fehler, auch Redundanzen und sprachliche Patzer hätten dieser
sehr informativen, quellengesättigten und urteilssicheren
Arbeit so erspart werden können. Davon abgesehen, ist Müllers
Studie aber jedem zu empfehlen, der sich für das Verhältnis
zwischen SPD und Vertriebenenverbänden interessiert. Sie hilft,
die Tiefe des Bruchs auszuloten, zu dem es Ende der 1960er-
Jahre kam, und trägt damit auch zum Verständnis späterer
Konflikte bei.
Anmerkung:
Die Formel, dass deutsche Ostpolitik "nie hinter dem Rücken
der Vertriebenen gemacht" werden dürfe, hatte Brandt seit
seiner Festansprache auf dem Deutschlandtreffen der Schlesier
vom 9. Juni 1963 noch mehrmals wiederholt.
Diese Rezension wurde redaktionell betreut von:
Jan-Holger Kirsch /kirsch@zeitgeschichte-online.de
URL zur Zitation dieses Beitrags
http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de ... 2013-1-013
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dann schreiben Sie bitte an die Redaktion von H-Soz-u-Kult:
hsk.redaktion@geschichte.hu-berlin.de
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