Elch-Niederung: Was alte Kirchenbücher erzählen ...

Elch-Niederung: Was alte Kirchenbücher erzählen ...

Beitragvon -sd- » 25.05.2019, 19:38

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Heute mal keine Daten sondern etwas 'Atmosphärisches'
aus meiner Arbeit mit alten Kirchenbüchern.

Ich beschäftige mich inzwischen seit ungefähr drei Jahren
ganz intensiv mit dem im Kreis Elchniederung gelegenen
Kirchspiel Inse, das insbesondere die drei direkt am Kuri-
schen Haff gelegenen Haffdörfer Inse, Tawe und Loye
umfaßt.

Ich bin dabei, die Kirchenbücher komplett zu erfassen.
Geschafft habe ich bisher den Zeitraum ca. 1840 bis 1874
komplett mit Geburten, Heiraten und Todesfällen sowie
teilweise die Geburten zurück bis 1798. Insgesamt rund
11.000 Datensätze.

Aber die Kirchenbücher liefern nicht nur dröge Daten,
sondern auch viele bemerkenswerte Details, lustige wie
frustrierende, die einen kleinen Einblick in die Zeit und
das Leben der Menschen ermöglichen.

Zu den aus meiner Sicht interessantesten Fundstücken
gehört der "Kampf" des wohl aus der Stadt (vermutlich
Königsberg) stammenden Pfarrers Karl Leopold Friedrich
Neiss mit der Moral seiner "Schäfchen" in den Haffdörfern
Inse, Loye, Tawe und vor allem in den auch zum Kirchspiel
gehörenden abgelegenen Ansiedlungen Aukstutt, Kumzoge
und Löckerort.

Im Jahr 1852 findet man folgenden Heiratseintrag:
„Der Eigenkätner Friedrich Heydeck aus Kumzoge mit
seiner Braut mit welcher er 30 Jahre im Koncubinate
gelebt Gertrude Nienke aus Kumzoge“. Als ob dieses noch
nicht ausreichte, seine Empörung auszudrücken, hat Pfarrer
Neiss zusätzlich noch vermerkt, daß das Paar „vor der
Trauung 30 (dreißig) Jahre in wilder Ehe gelebt“ habe.
Der Bräutigam war zu dem Zeitpunkt übrigens 60 Jahre,
die Braut sogar 68 Jahre alt.

Nicht erwartet hätte ich, daß ich in den Kirchenbüchern
auch mehrfach Hinweise auf Scheidungen gefunden habe.
Welche Gründe um 1850-1870 zu einer Scheidung führten,
bleibt zumindestens im Moment im Dunklen.

Schwierigkeiten bei der Zuordnung der Personen machen
mir manchmal die in Orten oft anzutreffenden Familien-
namen wie Besmen, Szikszneit, Gaigals, Knurbien, besonders
dann, wenn sie mit häufig verwendeten Vornamen (z.B.
Ancas, Jurgis, Maryke) kombiniert werden.
Überhaupt geht die Schreibweise der Namen durcheinander
und auch der Gebrauch der unterschiedlichen Formen eines
Vornamen führt immer wieder zur Verwirrung und Unklarheit.
Ein und dieselbe (eindeutig identifizierbare) Person wird über
die Jahre in den verschiedensten Schreibweisen aufgeführt
(z.B. Ancas Besmen - Hans Besmens - Johann Besmehn
oder Jurras Gaigal - Jurgis Gaigals - George Gaigall).

Was läßt sich aus den Kirchenbüchern alles noch herauslesen ?

Die Säuglings- und Kleinkindsterblichkeit ist hoch. Viele Kinder
überleben die ersten Monate nicht. Dramatisch wurde es,
wenn Infektionskrankheiten wüteten. Zum Beispiel sind im
November und Dezember 1867 in Inse und Tawe mindestens
37 Kinder an Masern gestorben, die meisten unter 3 Jahren.
Ähnlich dramatische Folgen hatten die Pocken im Sommer
1871, wobei an den Pocken auch ältere Kinder und einige
Erwachsene gestorben sind. Im Jahr 1848 wütete erst Typhus
(mindestens 25 Tote) und am Jahresende Cholera (10 Tote)
und auch das Jahr 1855 verzeichnet mit 151 Toten im Vergleich
zu „normalen“ Jahren eine mehr als doppelte Anzahl von
Sterbefällen (Cholera 27 Tote).

Das, was man heute 'Patchwork-Familien' nennt, war häufig
anzutreffen, natürlich aus anderen Gründen als heutzutage.
Verstarb ein Ehegatte, hat der andere oftmals schnell wieder
geheiratet. Eine verwitwete Frau sicherlich um einen "Ernährer"
für sich und ihre Kinder zu haben, ein verwitweter Mann hatte
häufig noch minderjährige Kinder, die versorgt werden mußten.
Bei den weiteren Ehen waren erhebliche Altersunterschiede
zwischen den Ehepartnern nicht selten. Es waren nicht nur
die Witwer, die eine viel jüngere zweite oder dritte Ehefrau
hatten, sondern ich habe es auch mehrmals gesehen, daß
eine Witwe um die Vierzig mit mehreren minderjährigen
Kindern einen jungen Mann knapp über Zwanzig geheiratet hat.

Daß die Lebenserwartung im 19. Jahrhundert erheblich niedriger
als heute war, ist bekannt. Aber es war doch erschreckend,
bereits bei 55- oder 60jährigen als Todesursache den Eintrag
"Altersschwäche" zu lesen. Andererseits gab es auch schon
damals immer mal wieder Personen, die erst jenseits der
siebzig oder achtzig Jahre verstarben.

Die verwandtschaftlichen Beziehungen innerhalb der Orte
waren natürlich eng. Bei den Bewohnern von Tawe fällt aller-
dings auf, daß diese, wahrscheinlich aufgrund der Lage und
der Wegeverbindungen, vielfältige verwandtschaftliche
Beziehungen in den Kreis Labiau, besonders nach Nemonien
(Elchwerder) und Gilge hatten. Immer wieder stammt ein
Ehepartner aus einem dieser Orte, immer wieder ist zu sehen,
daß Paare in Gilge heiraten, obwohl sie in Tawe wohnen und
daß Kinder aus Tawe in Gilge getauft werden.

Die Kirchenbücher erzählen auch viele traurige Familien-
geschichten, die sich aus der zeitlichen Entfernung erst
nach und nach enthüllen, wenn man die getrennt aufge-
zeichneten Heiraten, Geburten und Sterbefälle in einen
Zusammenhang stellt. Hier ein Beispiel von vielen:

Der aus Nemonien stammende Jurgis Wingerninks,
ältester Sohn des dortigen Fischerschulzen, ist 30 Jahre alt,
als er 1863 die aus Groß Inse stammende 25jährige Urte
Gaigalike heiratet. Das Paar lebt in Groß Inse, und in den
nächsten zehn Jahren werden fünf Kinder geboren, von
denen bis 1873 zwei verstorben sind. Zwei Monate vor der
Geburt des jüngsten Sohn Miks im April 1873 ist der Vater
im Alter von nur 40 Jahren an Lungenentzündung gestorben.
Die Witwe mit drei kleinen Kindern heiratet ein knappes Jahr
nach dem Tod ihres Mannes ein zweites Mal. Nun wird es
tragisch: Keine zwei Wochen nach der erneuten Heirat
stirbt Urte Gaigalike an „hitzigem Fieber“. Was aus den
Kindern wird, ergibt sich nicht aus den Kirchenbüchern,
aber ich weiß, daß der jüngste Sohn in Tawe gelebt hat
und hoch betagt um 1960 verstorben ist.

Natürlich geben die Eintragungen in den Kirchenbüchern
auch Auskunft über die gesellschaftliche Stellung der
einzelnen Personen: Grundstücksbesitzer (Wirth) oder
Losmann, die örtlichen Honoratioren (Pfarrer, Ortsvorsteher
wohl aber auch der königliche Revierförster), Handwerker.
Auch hier gibt es manches Interessante.

Katharina Schroeter, Kiel
Mailto: ks_katharina (at) yahoo.de

Ich forsche im Kirchspiel Inse, Kreis (Elch-) Niederung mit dem
Ziel der Erstellung eines Ortsfamilienbuchs. Ich freue mich
über Informationen zu den Orten Inse, Tawe, Loye, Pait
und gebe sofern möglich gerne auch Auskunft.

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Hallo Dieter, auch wenn der Text schon uralt ist, so stimmt
eigentlich alles noch, und Du darfst den Text gerne übernehmen.

Ansonsten noch ein kleines Update:
Kirchenbücher Inse und nach Update irgendwann im Sommer
auch freie Personenstandsdaten des Standesamtsbezirks Inse
(Ortschaften Inse und Loye, vorhanden für die komplette Zeit
1874 - 1944) im Ortsfamilienbuch Inse online.

Zur Zeit tätig an Standesamtsunterlagen Karkeln.

Katharina (Schroeter)

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Mein Reiseblog https://katharinaunterwegs.jimdofree.com
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Online Ortsfamilienbuch auf http://www.online-ofb.de/inse
Daten aus der Verkartung der Kirchenbücher des Kirchspiel Inse
(Orte: Inse, Tawe, Loye) aber auch Daten aus der Umgebung
u.a. aus den Kirchspiel Kallningken / Herdenau, Kreis Elch-
niederung. ebenfalls online: Daten aus dem Kirchspiel Gilge
auf http://www.online-ofb.de/gilge und dem Kirchspiel Karkeln
auf http://www.online-ofb.de/karkeln
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