Liebes heimatliches Braunsberg.

Liebes heimatliches Braunsberg.

Beitragvon -sd- » 24.12.2018, 22:05

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Liebes heimatliches Braunsberg.
Von Maria-Elisabeth Bischoff.

Um die 1241 an der Passarge gegründete Ordensburg herum bauten Männer aus Lübeck
die Siedlung Braunsberg. Mit der Aufnahme in den mächtigen Bund der Hanse war für
Braunsberg das Tor der damaligen Welt geöffnet; Braunsbergs Schiffe zeigten ihre Flaggen
in allen Häfen der Ostsee. Der Speicher Goldener Löwe erinnert noch an jene große Zeit.
Prächtige Bauten der Backsteingotik entstanden, so der Dom von Sankt Katharina
(die Pfarrkirche), dessen gewaltiger Turm und dessen Dach hoch über die Dächer der
Stadt emporragten.

Braunsberg ist so gründlich zerstört worden wie nur sehr selten sonst eine andere deut-
sche Stadt, zog sich doch etwa sieben Wochen hindurch rings um die Stadt der Belagerungs-
ring. Kurz vor der Einnahme, in der Nacht vom 19. zum 20. März 1945, wurden die hervor-
ragendsten Bauten gesprengt, unter ihnen die Katharinenkirche. Von dem sechzig Meter
hohen Turm blieb nur eine zwanzig Meter hohe und zwei Meter breite Säule stehen. Die
Sterngewölbe liegen als Trümmer auf dem Boden. Der schöne alte Rathausbau mit seinem
Zwiebelturm wurde ebenfalls gesprengt. Die Liste der Zerstörung könnte noch lange fort-
gesetzt werden.

Das war mein erster bewußter Eindruck von Braunsberg: daß ich als Dreizehnjährige auf
dem Bahnhof stand, Koffer und Schirm in der Hand, inmitten von großen Pfützen. Es goß
in Strömen und mir schien das nur eben recht so. Das richtige Abbild meines Innern war
es, dieses trostlose Herabströmen des warmen Sommerregens. Und da sollte ich nun
alleine hier bleiben und in eine fremde Schule gehen ! Und alles würde so anders sein
als zu Hause !

Das Herz war mir so schwer, als wir die Bahnhofstraße und dann die Hindenburgstraße
hinuntergingen über ein regennasses Pflaster. Und dann ging's um die Ecke und über die
Brücke, unter der die Wellen der Passarge munter daherhüpften und in hellem Glanze die
eben wieder auftauchende Sonne spiegelten. Wir blieben stehen und sahen hinunter
über den Brückenrand und dann zum 'Speicher Goldener Löwe' hinüber, der hart am
Wasser steht, das satte Rot der Ziegel durchzogen von dem tiefen Braun des Fachwerks.

Ein reges Treiben herrschte auf dem Platz davor. Säcke wurden abgeladen, Wagen kamen
und gingen, die Türen des Speichers standen weit offen und Menschen liefen ein und aus.
Auf dem Wasser schaukelten still und verträumt und wie unberührt von der Unruhe rings-
umher ein paar dunkle Kähne. Hinter uns auf der Brücke lärmte der Verkehr — da drüben
war auch Leben, aber zugleich schien es stille zu stehen und vergangenen Zeiten nachzu-
träumen.

So deutlich ist mir das alles noch in der Erinnerung ! In das schon im Voraus erlebte Heim-
weh und das Gefühl des ersten Auf-sich-selbst-gestellt-seins mischte sich noch etwas
anderes, hier zum ersten Mal. Es war auf einmal gar nicht mehr alles so fremd.

Und dann ging es die Langgasse hinauf, und als sich links eine schmale Seitengasse auftat
und dahinter das dunkle Rot eines großen Gebäudes sichtbar wurde, da war das die Schule.
Und wenige Schritte weiter tauchte zur Rechten das Rathaus und dahinter die helle Wand
des 'Steinhauses' auf, und drüben ragte der mächtige Turm der Pfarrkirche über den
Dächern der Langgasse empor.

Vielleicht spürt ein Kind am unmittelbarsten und stärksten die Seele einer Stadt. Sie ist ja
nicht nur lebendig in den alten Häusern und Bauwerken, in den Straßen und Brücken,
nicht nur im immer gleichen Lauf des Flusses — sie ist ja nichts Festgefügtes und Starres.
Sie ist viel mehr: unmittelbares, lebendiges Leben, das von allem ausstrahlt, was die Stadt
durch Jahrhunderte begleitet hat. Sie schwingt durch den Lauf der Tage und durch den
Sinn der Menschen und ist spürbar auch für die, die dort nicht aufgewachsen und nicht
dort geboren sind. Sie ist immer da, ohne feste Gestalt und durch keine Worte zu bannen,
und dennoch nimmt sie jeden in ihre Gewalt, der sie fühlt. Braunsberg hatte eine Seele,
hatte sie aus der Zeit seines Entstehens hinübergerettet bis heute. Und wenn man ihr
nachsann, konnte man alles darin wiederfinden: die waffengewaltigen und gottesfürch-
tigen Ordensritter, die die erste Burg bauten, und die reichen hanseatischen Kaufherren,
deren Macht und Einfluß die Stadt aufblühen ließen und deren Schiffe weit über die
Meere fuhren. Man sieht sie stolz und hoch durch die Speicher schreiten und die Vorräte
mustern, sieht sie die ankommenden Schiffe am Hafen betrachten und überwachen, die
Schiffe, die bis zum Rand beladen sind und in alle Welt hinausfahren. Sieht die Stadt
wachsen, immer mehr Häuser hinzukommen, sieht die Katharinenkirche erstehen, immer
höher und höher hinaufstreben über die Dächer der Stadt hinaus, sieht die ehrsamen
und tüchtigen Bürger und Handwerker der Stadt beim Tagewerk und beim festlichen
Gottesdienst, sieht Kriegszeiten und Aufruhr über die Stadt hingehen mit Zerstörung
und neuem Aufbau, sieht den Glanz des äußeren, die stolzen Handelshäuser nach und
nach schwinden und sieht das geistige und religiöse Leben weiter werden, sieht Menschen
aufwachsen und sterben, sieht Arme und Reiche, Bürger und Bauern, Ratsherren und Kauf-
leute, Theologen und Gelehrte, sieht sie zu Hause ein schlichtes Leben führen und ihrem
Tagewerk nachgehen oder in die Welt hinausziehen, sieht wieder neue Kriege kommen
und neue Jahrhunderte anbrechen mit allem Glanz und allem Unheil der Technik, sieht
die Zeit dahingehen und die Jahre fließen, und sieht sich selbst am Ende einer ganzen
langen, ununterbrochenen Kette, die durch die Jahrhunderte geht, und deren jedes Glied
dem nächsten etwas mitgibt bis zum letzten Glied hin, welches die Kette berührt. Man
fühlt die Sicherheit des Bestehens und die Kraft des allesüberdauern durch jedes Glied
hindurch und spürt: Geborgenheit. Fühlt einen einzigen Strom von Gläubigkeit und Treue
und fester Zusammengehörigkeit durch die lange Kette gehen und spürt beglückend:
Heimat. Und weiß: Auch hier ist Zuhause. Und ist von da an nicht mehr alleine.

Der Koffer wurde ausgepackt und verschwand in einer dunklen Ecke. Und es regnete
nun auch nicht mehr. Und das bang erwartete Heimweh kam nicht, war versunken und
vergessen im Bann des Neuen, zog nicht hinaus in die Ferne, sondern schlug Wurzeln,
die immer tiefer reichten und alles erfaßten.

Da war der tägliche Gang zur Schule. Und jeden Morgen dasselbe: während die Hände
noch flink nach ein paar Büchern griffen und das letzte Stück Frühstücksbrot im Mund
verschwand, wanderte ein schneller Blick aus dem Fenster zum glitzernden Zifferblatt
des Rathaustürmchens empor, und wenn dann die Uhr zum Schlagen ausholte mit
dem zitternden hellen Klang, der von früh bis spät unser ständiger Begleiter war, dann
sausten wir schon die Langgasse hinunter und langten beim letzten Schlag gerade bei
der Schultüre an. Ach ja, die Schule ! Da hatte ich am ersten Tage gleich eine Ansichts-
karte nach Hause geschickt, darauf die Schule abgebildet war, von der Passarge her
gesehen und die Fenster fast verborgen von einem Meer von hohen Bäumen und Grün.
Und unten in einer Ecke stand steif und feierlich: 'Elisabethschule zu Braunsberg —
Ostpreußen'. Keiner von uns nannte sie so ! Als ich von Zuhause fortgegangen war, da
hatten sie alle gesagt — Tanten und Großmütter und Freunde der Eltern und die Lehrer-
innen: "Du gehst nach Braunsberg ? Ach ja — wo sind die Zeiten ! Grüß' mir doch die
Lieschenschule, ja ? Aber vergiß nicht ! Als ich noch so alt war wie du ... „ Und dann war
jedes Mal eine lange Pause gefolgt, in der ich mir Zeit nahm, nachzudenken, was sie wohl
erlebt haben mochten, damals „als sie noch so alt waren wie ich . . . "

Und was an Onkeln da war und Großvätern von Freundinnen und Bekannten und viele
alte Opas (wie wir sagten), von denen man sich gar nicht mehr vorstellen konnte, daß
sie auch einmal in die Schule hatten gehen müssen, die sagten auch: „Ja, ja, wo sind
die Zeiten ! Als wir noch die bunten Schülermützen trugen !" — und mancher war
dann dabei, der ein bisschen mit den Augen zwinkerte und schelmisch sagte: „Ich habe
doch immer gedacht, daß die Leute damals vor so vielen Jahren Braunsberg klug gebaut
haben. Wenn wir zum Gymnasium gingen, mußten wir doch wohl oder übel immer die
Lieschenschülerinnen treffen . . . , ja, und das war gar nicht so schlecht . . . ! " Und wenn
dann zwei zusammen waren, dann gab es eine endlose Reihe von „Weißt du noch" !
und Namen von Mitschülern und Spitznamen von Lehrern tauchten auf, die jeder kannte,
und von denen ich schon Geschichten gehört hatte, lange ehe ich nach Braunsberg kam.

Und wenn ich zu Hause in den ermländischen Geschichtswerken blätterte, die im Bücher-
schrank standen, dann fand ich darin auch die Namen derjenigen verzeichnet, die schon
vor bald mehreren Hunderten von Jahren das Gymnasium besucht hatten. Das war dann
wie ein Stück Welt im kleinen: dieser dort war ein geleerter Herr geworden und jener
war hinausgezogen in fremde Lande, und einer war ein berühmter Professor geworden
und Arzt und einer ein Künstler, und dieser hier war Bischof von Ermland gewesen und
jener ein schlichter Pfarrer, und einer war ein Richter geworden und einer ein Kaufmann —
viele stammten von den Bauernhöfen im Ermland, und oft sparten die Eltern lange Jahre,
damit der Sohn aufs Gymnasium gehen konnte. So viel Namen standen da verzeichnet,
Namen auch von Verwandten und Freunden und Vorfahren — sie alle waren den gleichen
Weg gegangen durch die gleichen Straßen und hatten in den gleichen Räumen gesessen.

Es hatte sich wohl vieles verändert seit jenen vergangenen Tagen — aber es schwang
doch immer noch etwas davon mit und stand hinter dem ganzen sorglosen und oft von
einem selbst belächelten Schuldasein. Und wenn man sich auch im Kreis der Klassen-
kameradinnen einig war darüber, daß ein Aufsatz über die Katharinenkirche oder das
Rathaus oder auch über das Steinhaus im höchsten Grade „schauderhaft" war und
eine Zumutung („Was soll man denn da bloß schreiben ?") — es kam dabei doch etwas
mehr heraus als die Sätze, die man mühsam und stockend aufs Papier brachte, auch
wenn man es sich selbst nicht eingestehen wollte.

Das Steinhaus war doch mehr als nur ein "Barockbau mit italienischem Stilempfinden",
und hinter dem Widerstreben des Aufsatzzwanges stand schon das Empfinden für die
wirkliche Schönheit in der klar gegliederten, hellen Fassade. Und wenn man, am Blei-
stift kauend und auf dem breiten Fenstersims sitzend, das gähnend leere Aufsatzheft
neben sich, die wichtigsten Merkmale des Rathauses festzuhalten versuchte und reka-
pitulierte, daß die Figuren an der Vorderseite „die vier männlichen Tugenden, nämlich:
Klugheit, Maß, Gerechtigkeit und Tapferkeit" darstellten, und daß in den beiden oberen
Nischen „Glaube und Hoffnung" versinnbildlicht waren, dann stand mitten in der trockenen
Aufzählung so großer Worte doch ein bisschen Verstehen dafür auf, daß solche Zeichen
auf einem Gebäude, das den weltlichen Mittelpunkt der Stadt darstellte, wohl mehr
bedeuteten als bloße steinerne Figuren. Und wenn man drunten im Klostergarten saß
und zum wer weiß wievielten Male zum hohen Kirchturm hinüberschaute, der sich über
dem trutzigen Rund des, Klosterturmes aufreckte, und dessen warmes Rot man nun schon
so lange vergeblich mit dem Pinsel und Wasserfarbe nachzubilden versuchte, dann war
das mehr als eine bloße Schulaufgabe, und man brauchte gar nicht die Erinnerungen aus
dem Kunstgeschichteunterricht mit dem verwirrenden Wissen, wie viele Strebepfeiler
da wären, wie viele Stockwerke am Turm, wie lang und wie breit Querschiff und Lang-
schiff seien und aus welcher Stilepoche die Apsis stamme — dann sah man auch so, daß
das schön war, was da so stolz und hoch über dem Grün der Bäume stand und sich in
den blauen Sommerhimmel hineinhob, und was auch in der Schönheit und Ausgewogen-
heit seines Innenraumes mehr war als nur eine Leistung der Architektur.

Der Aufsatz wurde geschrieben und andere folgten. Das Jahr ging hin und der Winter
kam mit Kälte und Schnee und Schlittschuhlaufen und mit krachenden Eisschollen auf
der Passarge. Mit Adventsfeiern in der Schule und der Krippe und dem glitzernden
Lichterbaum in der Kirche. Mit weiten Spaziergängen an der Passarge entlang, daran
zu Seiten des Weges die uralten Bäume wie tote Riesen standen und ihre Arme in die
Luft reckten wie schwarze Schattenbilder vor der weißen Landschaft, bis hinaus in die
Abgeschiedenheit der Kreuzkirche, die wir gerade im Winter am meisten liebten, wenn
sie noch einsamer war als sonst, und wenn sich die schwachen Strahlen der Winter-
sonne verstohlen durch die Fenster der Kuppel einen Weg ins Innere suchten.

Dann kamen das erste Tauwetter und der erste Blick von der kleinen Brücke hinter der
Schule auf das wieder eisfreie Wasser. Der kleine Wasserfall rauschte wieder Tag und
Nacht. Und wenn die Mandelbäumchen an den Hängen des Pflaumengrundes den
ersten zartrosa Schimmer zeigten, dann begannen wir schon wieder vom Sommer zu
träumen. Dann war es nicht mehr lange, bis auch im Botanischen Garten alles in Blüte
stehen würde. Wir würden wieder hinausgehen wie in jedem Frühjahr zum 'Rodels-
höfener Wäldchen', das wir so liebten, und die Schwäne würden wieder da sein auf
dem kleinen Teich, die Weiden würden wie immer tief ins Wasser hängen und von
den kleinen Birken beim Wasser würden wir uns den ersten Frühlingsstrauß pflücken.
In den Schrebergärten an der Passarge würden bald wieder die Sonnenblumen schwer
und golden über die Zäune hängen und auf dem Fluß würden die hellen Boote hin- und
herfahren.

Und dann würden die Menschen wieder in Scharen hinausziehen zur Haffuferbahn, um
an das Meer zu fahren, nach Kahlberg oder nach Marmeln. Und wir würden am Abend
wieder hinunterlaufen zur Passarge, wenn die Motorboote von der Fahrt nach Narmeln
zurückkommen, gefüllt mit sonnverbrannten und fröhlichen Menschen. Und der Seewind
würde wieder da sein, der uns weite Wege machen läßt bis zum Haff an den reifenden
Feldern vorbei — bis zum Abend in Altpassarge, wenn die Boote heimkehren und man
sie dunkel und still vor dem letzten hellen Schimmer der Nehrungsberge auf sich zukom-
men sieht, und danach nach Hause geht durch den warmen Sommerabend.

So würde es immer sein und Jahr für Jahr weitergehen ...

Aber dann heulte eines Tages mitten in die Biologiestunde hinein die Sirene — anders
als sonst. Und dann gab es keine Schule mehr. Gab es auf einmal nur noch Not und Elend,
Flüchtlinge und Treckwagen, jammernde Menschen und hilflose und verlorene Kinder,
und hinter allem und alles übertönend und alles erschreckend: der Kanonendonner,
erst noch fern, dann immer näher bis fast zum Stadtrand vordringend. Heimatlosigkeit
und Ausgestoßenheit nahmen ihren grausigen Anfang mitten in der Heimat selbst,
zeigten unbarmherzig auch die andere Seite des Lebens, davon diese Stadt nichts zu
wissen schien in all den Jahren vorher. Und ein paar Tage später stieg eine glühende Lohe
zum Himmel und sog alles in sich auf, - selbst den Schmerz derer die da draußen vor der
Stadt standen und zusehen mußten - machtlos und erstarrt und hilflos dankbar, daß es
ringsumher dunkel war und keiner den anderen sehen konnte.

Quelle: OSTPREUSSENBLATT, 5. Mai 1951

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