Das düsterste Kapitel aus der Nachkriegszeit in Königsberg.

Das düsterste Kapitel aus der Nachkriegszeit in Königsberg.

Beitragvon -sd- » 08.09.2018, 19:09

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In der Gewalt des Teufels.
Das düsterste Kapitel aus der Nachkriegszeit in Königsberg.

Von Pastor Linck

Aus einem Bericht von Pastor Linck 'Königsberg 1945 - 1948' in der 'Jungen Kirche',
der nach Abschluß der Veröffentlichung als Buch erscheinen soll.

Nur mit großem Widerstreben gehe ich an das heran, was ich in diesem Kapitel schildern will.
Aber es muß geschehen, weil ich ein volles Bild dieser drei Jahre, die ich von 1945 bis 1948
in Königsberg erlebte, — soweit es einem einzelnen möglich ist — zu geben für meine Aufgabe
halte. Aber auch, weil uns in Königsberg ein Blick erschlossen wurde in eine ganz besondere
Welt, die eben doch, ganz allgemein gesprochen, unsere Welt ist, die uns alle berührt, hier
aber einmal aus ihrer Verhüllung, zu einem Teil wenigstens, herausgetreten ist. Es ist die Welt
des Satans. Anders kann ich sie nicht bezeichnen.

Den Untergrund habe ich bereits geschildert, das furchtbare Hungern, die Verelendung aller,
das massenhafte Sterben. Man hätte die Gestalten sehen müssen, wie sie grau und über die
Jahre gealtert, ausgedörrt zu Skeletten oder mit geschwollenen Beinen über die Straßen
schieben, mit dem Erlebnis des Sterbens vieler Nachbarn belastet und mit der Frage als
stummer oder ausgesprochener Qual in den Gesichtern: Werde ich dem Tode entgehen ?

Auf diesem Untergrunde konnte sich das entwickeln, was jetzt zu berichten ist.

Das Verlangen nach Fleisch war ungeheuer groß. Der Mangel daran konnte eben nach dem
Urteil der Ärzte und der eigenen Erfahrung durch keine Ersatznahrung beseitigt werden, und
wo sollte sie schließlich auch herkommen.

Da wurde Fleisch angeboten durch Händler, die in die Häuser kamen, es war billiger als das
Fleisch üblicherweise kostete. Heimliche Schlachtungen von Kühen und Pferden kamen ja vor,
da fragte niemand nach der Herkunft der angebotenen Ware. Also man kaufte. So wurde eines
Tages dem Dr. Piontek ein Stück Fleisch zum Kauf angeboten. Er erkannte es als das Knie eines
Menschen. Auch sein von ihm befragter Kollege Dr. Riwold erkannte das Stück ebenfalls ein-
wandfrei in diesem Sinne. Sie meldeten den Vorfall der Kommandantur. Bald ergab sich folgendes:
Eine Verbrecherbande — Russen - trieben im Süden der Stadt ihr Unwesen. Sie lieferten in großen
Gefäßen das Fleisch der zerstückelten Ermordeten an einen Deutschen Lakoff, der im 'Schreber-
garten Morgenrot' wohnte. Eine dorthin über den Schnee führende Blutspur — es war Ausgang
des Winters 1946 — wies einwandfrei dorthin. Dieser bediente sich eines anderen Mannes,
Newiger, der in meinem Beerdigungskommando war, um das Fleisch in den Handel zu bringen.
Nebenbei sei gesagt: ein Mißbrauch der Funktionen dieses Kommandos lag nicht vor, konnte
auch nicht vorliegen, weil erstens das Fleisch natürlich Verstorbener für diese schauderhaften
Zwecke als nicht ausgeblutet nicht in Frage kam und weil ja immer in einer Kolonne gearbeitet
wurde. Es muß aber auf noch anderen Wegen Menschenfleisch in den Handel gebracht worden
sein, denn auf dem großen Markt in der Luisenallee wurden verhältnismäßig billige Klopse und
auch Sülze angeboten. Eine Reihe von Menschen aus unserer Nachbarschaft erzählte mir später,
daß sie von solch verbilligtem Fleisch gekauft und ahnungslos gegessen hätten. Als bei einem
Stück rohen Fleisches unter Hinweis auf die seltsame Beschaffenheit der Haut Fragen laut
wurden, hieß es, es wäre von einem großen Raubvogel.

Beide an diesem Handel Beteiligten wurden verhaftet, vor Gericht gestellt, und mit dem Tode
bestraft. Ich kam eines Tages im Gebäude der Miliz in Kalthof dazu, zu sehen, wie eine russische
Verbrecherbande von etwa zwanzig Mann zur Gerichtsverhandlung geführt wurde. Es waren
furchtbare Gestalten, denen Schwerverbrechertum und pathologische Entartung im Gesicht
geschrieben stand. Aber was hat die beiden Deutschen zu diesem schauerlichen Gewerbe
getrieben ? Selbstverständlich auch der allgemeine Hunger. Aber der nicht allein. Newiger war
erst in der Kriegszeit als Friedhofsarbeiter in den Dienst meiner Gemeinde getreten und hatte
ordentlich und ehrlich sein Leben geführt und seine Arbeit getan, die er übernommen hatte als
Stellvertreter seines zum Wehrdienst eingezogenen Schwiegersohnes. Er war auch für ein paar
Monate zum Kriegsdienst eingezogen und kam mit einer Fußverrenkung aus dem Felde zurück
und nach seiner Entlassung wieder zu seiner Arbeit. Aber er war ein anderer Mensch geworden.
Er, der früher ein bescheidener Mensch gewesen war, dessen besondere Lebensfreude der Um-
gang mit seinen Enkeln war, zeigte nun ein mürrisches, anspruchsvolles, verschlossenes Wesen.
Es war für seine Familie schwer zu tragen, auch mir hat er einmal schweren Verdru? bereitet.
Nun war er vollends in den Klauen des Satans. Ich suchte noch mit ihm ein seelsorgerisches
Gespräch zu führen, als dieser entsetzliche Verdacht gegen ihn aufkam. Er scheiterte an seiner
Unaufrichtigkeit. Zwei Tage danach wurde er bereits verhaftet.

Zwei andere Fälle liegen noch deutlicher, die ich nicht so aus unmittelbarer Erfahrung kenne,
die mir aber von ganz ernst zu nehmenden Menschen erzählt wurden.

Da wohnten auf den Hufen drei Frauen. Sie trieben Menschenfang, Menschenmord und Handel
mit Menschenfleisch und haben sich an schwächere Personen, insbesondere Frauen und Kinder,
herangemacht. Dann kam es unter ihnen zu schweren Auseinandersetzungen, sie erschlugen
sich gegenseitig. Schließlich hat ein Mann die Letzte von ihnen getötet. Das war eine Art Feme,
wofür die geängstigte Umgebung ihm dankbar war und er hatte es aus dem Gefühl der Notwehr
für die Bevölkerung getan.

Im anderen Fall handelte er sich um eine alte Frau in Rosenau, die ihren Enkel tötete und sein
Fleisch aß. Die entsetzten Nachbarn schilderten die verdächtigen Anzeichen dieser Tat, wußten
zu berichten, wie die Frau es nicht mehr aushielt in dem Raum, in dem die Tat geschehen war
und wie sie etwa zwei Tage danach verstorben ist. Reste des etwa achtjährigen Knaben wurden
in Kochtöpfen noch gefunden.

War es der Hunger allein, der zu diesen fürchterlichen Geschehnissen führte ?
Nein. Denn sonst hätten solche Abscheulichkeiten viel häufiger auftreten müssen.

Es mu? eine besondere seelische Disposition vorgelegen haben. Damit meine ich nicht eine
anormale, pathologische Veranlagung. Ich will das an einem Beispiel deutlich machen.
Der Hunger hatte uns alle befallen. Aber man darf sagen, da? er in der überwiegenden Mehr-
zahl auf Menschen traf, die ihre feste innere Haltung bewiesen. Sie hungerten eben. Sie legten
sich hin und starben. Aber bei anderen steigerte die Not die Gier, und in dieser Gier wurde
im Nu alles verschlungen, was erreichbar war. Mit gieriger Hast wurde gegessen und während
des Essens noch gingen die Augen herum, etwas Neues mit ungezügeltem Verlangen zu erspähen,
nach dem die Hände dann unbeherrscht griffen. So konnte es geschehen, da? der Freund im
selben Augenblick, in dem er etwa am Herd zu schaffen hatte, bestohlen wurde von dem, mit
dem er eben sein letztes Brot geteilt hatte.

Aber das war das schmerzlichste Erlebnis auf vielen Gebieten, daß der, der kraft der Nachbar-
schaft, der Zugehörigkeit zum selben Volk, sich als Freund und Bruder, als Gehilfe wie Schick-
salsgefährte erweisen sollte, sich gegen den Bruder kehrte, seine Not mehrte durch Neid und
Streit, durch Betrug und Diebstahl, durch Verrat und Denunziation und Spitzelwesen. Ja, die
Gewalt des Teufels war groß.

Nur die Gewalt Gottes vermochte, uns in alledem und trotz alledem zu wahren und zu retten.

Ihm sei Dank, da? wir die Zeiten, in denen der Teufel so grausam seine Herrschaft ausübte,
überstehen durften, in der Kraft und in dem Sieg dessen, der für uns am Kreuze starb.

Quelle: OSTPREUSSENBLATT, 20. Oktober 1950

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