Ein Volk stand auf.

Was Sie zu Ungarn wissen sollten.
Zur Geschichte einer gescheiterten Volkserhebung.

Ein Volk stand auf.

Beitragvon -sd- » 19.09.2017, 18:23

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Ein Volk stand auf.

Die hochdramatischen Ereignisse in Ungarn haben die ganze Welt aufhorchen
lassen. Zum zweiten Male — nach dem 17. Juni 1953 — hat sich hier etwas
ereignet, was vielen kühlen Rechnern und Beobachtern im Westen völlig un-
vorstellbar erschien. In einem Land, das unter der harten Faust sowjetischer
Divisionen leben muß, in dem die kommunistischen Machthaber alle Trümpfe
von Anfang an in der Hand haben und sowohl über eine beachtliche Rote
Armee wie auch über eine in allen Unterdrückungskünsten geschulte mächtige
Polizeitruppe verfügen, erhebt sich dennoch die zunächst völlig waffenlose
Jugend einer Nation, recht bald verstärkt durch weite Kreise der Arbeiter-
schaft, durch Bauern und Handwerker gegen die Unterdrückung. Ein paar
Tausend entrollen zuerst das Banner der Freiheit, reißen die verhaßten
Symbole der Tyrannei nieder und stehen wenige Minuten später schon im
Feuer der Maschinengewehre. Man muß also damit rechnen, daß spätestens
in einer Stunde die ganze Demonstration in Blut erstickt sein wird. Allzu
ungleich sind doch die Kräfte verteilt, als daß man sich irgendeine Chance
für die Sache der Freiheit ausrechnen könnte. Der rote Regierungssender
verkündet bereits, daß man mit den "Störern der Ordnung" fertig sei. Und
dennoch kommt es dann ganz anders. Nach kurzer, trügerischer Stille
nimmt der Waffenlärm von neuem zu, wächst immer weiter an und kommt
nun nicht mehr zum Schweigen für viele Tage. Was hat diese Wendung
gebracht ?


Der Strom bricht los.

Zu den ersten Marschierern stoßen immer neue Gruppen. Was erst wie ein
Gebirgsbach anmutete, ist im Handumdrehen zu einem mächtigen reißen-
den Strom geworden, und dieser reißt sehr bald riesige Dämme auf, die bis
zu diesem Tage als unzerstörbar galten. Von den alarmierten Regierungs-
truppen gehen die ersten zu den Männern der Erhebung über. Sie reißen
sich die verhaßten Sowjetsterne von der Kappe, sie reichen Waffen an die
weiter, die bis dahin buchstäblich mit nackten Fäusten gegen schwerbewaff-
nete Kommunisten marschierten. In Massen kommen die Arbeiter, um mit-
zukämpfen für die Freiheit, die ganze Freiheit von der Fremdherrschaft,
von der Not und Unterdrückung durch die verhaßten Antreiber und Bonzen
der Kommunistenpartei. Die Machthaber, die pausenlos in den feudalen
Palästen des roten Staates tagen, spüren sehr deutlich, daß hier eine unge-
heure Flutwelle heranbrandet, die sie bald hinwegfegen könnte. So richten
sie denn an ihre russischen Kontrolleure die Bitte, unverzüglich die Sowjet-
panzer auffahren zu lassen; sie sollen ihre eigenen ungarischen Landsleute
zusammenschießen. Das Sowjetoberkommando hat freilich darauf nicht ge-
wartet, es hat schon einige Stunden vorher die ratternden braunen Ungetüme
mit den drohenden Geschützen in Marsch gesetzt. Wie am 17. Juni in Mittel-
deutschland, so sollen sie in einigen Stunden auch hier die Entscheidung her-
beiführen. Ein stählerner Gürtel schließt sich um die schöne Donauhauptstadt.
Abermals scheint die Chance der Volkserhebung auf null gesunken zu sein.
In falschem biedermännischem Ton mahnt der Rote Sender zur sofortigen
Kapitulation. Wenn man umgehend die Waffen niederlege und sich gehorsam
unterwerfe, dann wolle man Gnade üben und einiges Entgegenkommen
zeigen. Dieses "Angebot" ist kurz befristet, und man fühlt sich so sicher,
daß man auch ins Ausland funkt, der Widerstand habe nun fast aufgehört.
Als Balsam wird die Nachricht serviert, daß der verhaßte Parteisekretär Gerö,
der mit seinem Bekenntnis zum engsten Sowjetbündnis die Volkswut noch
aufs äußerste gesteigert hat, durch einen anderen Kommunisten ersetzt
werde, von dem bekannt ist, daß er zu den "Titoisten" gerechnet wird.

Die Flammen greifen weiter.

Das Ausland, das bis zu dieser Stunde eigentlich nur durch die einseitig ge-
färbten Meldungen des kommunistischen Staatssenders etwas über die Vor-
gänge erfahren konnte, horcht auf, als wenig später die Frist zur Unter-
werfung erstmals und dann wiederholt verlängert wird. Die Bekanntmach-
ungen und Aufrufe, die Radio Budapest nun bringt, werden von Leuten ver-
lesen, die offenbar erst neu ins Funkhaus kommandiert worden sind. Sie
werden nervös heruntergehaspelt, wobei man sich oft verspricht. Auch der
neue Ministerpräsident Nagy verrät in seinem Tonfall, wie ernst und besorgt
man in den Kreisen der Machthaber ist. Eines wird deutlich: die Lage ist für
das Regime viel ernster, als man öffentlich zugeben will. Der anhaltende
Kampflärm der Millionenstadt ist manchmal sogar am Mikrophon zu hören.
Augenzeugenberichte von Ausländern und bald darauf auch die ersten
Erklärungen kleiner Freiheitssender beweisen, daß aus der Budapester
Erhebung längst schon eine des ganzen Landes, der ganzen Nation gewor-
den ist. Man erfährt, daß ungarische Arbeiter in Csepel sogar Sowjetpanzer
außer Gefecht gesetzt haben, daß es in Raab, Fünfkirchen, Ödenburg und
anderen Plätzen zur Bildung von neuen Volksräten aus Arbeitern, Bauern
und Soldaten gekommen ist und daß in vielen Orten harte Kämpfe mit den
roten Sklavenvögten und ihren Polizisten entbrannt sind. Gerüchte sprechen
vom Anrücken neuer Sowjeteinheiten von Rumänien her. Die Zahl der Blut-
opfer steigt in die Hunderte, in die Tausende, und wer wirklich bis Budapest
vorstößt, hört dort Kanonendonner und sieht zahlreiche Brände.

"Vergesst uns nicht !"

Schon in den ersten Tagen dieses Aufstands gegen die Unterdrückung wird es
allen klar, daß hier der Rahmen nur innerparteilicher kommunistischer Aus-
einandersetzungen und Umgruppierungen sofort gesprengt worden ist. Ein
tapferes Volk ist hier angetreten, um sich die unveräußerlichen Menschen-
rechte, die das rote Regime ihm zwölf Jahre lang vorenthielt, um sich Freiheit
und Selbständigkeit zurückzuholen. In diesem Ringen haben diese Ungarn die
schwersten Opfer auf sich genommen. Sie haben bewußt nach dem großen
Dichterwort gehandelt, daß die Freiheit und das Himmelreich keine Halben
gewinnen und daß man auch das Leben daran setzen muß, wenn man das
Höchste erringen will, was dem Menschen von Gott geschenkt wurde.

Wann immer in den letzten Tagen Ausländer aus Ungarn in Österreich ein-
trafen, wußten sie von dem Geist dieser Freiheitskämpfer Rühmendes zu
berichten. So oft die Fremden diesen Männern und Frauen begegneten, riefen
diese ihnen zu: "Vergesst uns nicht, ihr da draußen in der freien Welt. Erzählt
allen, was ihr hier gesehen habt und denkt darüber nach, wie ihr uns helfen
könnt". Es war erschütternd, mitzuerleben, wie die Ungarn unter ihrer alten
Nationalflagge an die Grenze zu den Österreichern marschierten, ihre Freiheits-
lieder sangen und riefen: "Wir wollen frei sein wie ihr. Wir wollen heraus aus
der Knebelung und Not …." Sie sind sehr einsam gewesen in diesem Kampf,
sie standen ganz auf sich allein. Ihr Ruf aber, ihnen wenigstens die schon so
wichtige moralische Unterstützung zu geben, ihnen durch Beistand und
Spenden in ihrer großen Not zu helfen, darf von uns nicht überhört werden.
Wir sind es, die das Weltgewissen für sie zu alarmieren haben, die ihnen
beweisen müssen, daß ihr Anliegen auch das unsere ist. Die freie Welt hat
in dieser Stunde zu beweisen, daß es Höheres gibt als nackte Zweckmäßig-
keit, daß ein Volk, das um seine Freiheit ringt, auf jede menschliche Hilfe
rechnen kann, die es braucht.

Die nächste Etappe.

Als am letzten Sonntagabend der Ministerpräsident Nagy über den Rundfunk
bekanntgab, er habe den Regierungstruppen die sofortige Einstellung der
Kämpfe befohlen und mit dem sowjetischen Oberkommandierenden die Zu-
rückziehung der russischen Truppen aus Budapest vereinbart, er wolle auch
über den Abzug der Sowjetdivisionen aus Ungarn mit Moskau verhandeln, da
wurde es klar, daß die Erhebung ihren ersten Sieg errungen hatte. Nagy hat
die Auflösung der besonders verhaßten roten Sicherheitspolizei, die Einfüh-
rung der alten Hoheitszeichen, die Bildung einer neuen Exekutive, die völ-
lige Straffreiheit für alle Teilnehmer des Aufstands zugesagt und zahlreiche
weitere Versprechungen gemacht. Ob er sie loyal erfüllen wird, muß sich
zeigen. Daß der heutige Chef des immer noch kommunistischen Regimes
zugab, die Volkserhebung habe "die Sünden der Vergangenheitgnadenlos
aufgedeckt", ist sicher ebenso beachtlich wie die Feststellung, daß vor
allem der Starrsinn der früheren roten Machthaber den Ernst der Lage ge-
schaffen habe. Geschwiegen hat Nagy dagegen gegenüber den eigentlich
entscheidenden Forderungen der Aufständischen: freie und wirklich demo-
kratische Wahlen, Bildung einer Regierung aus allen Parteien und völlige
Lösung des Bündnisses mit der Sowjetunion. Es ist kaum anzunehmen, daß
ihm die Männer der Freiheitsbewegung die Antwort hierauf erlassen. Sie
werden nicht ruhen und rasten, bis die Ungarn, wie andere freie Völker
auch, selbst über Schicksal entscheiden können. In dem Augenblick, in
dem diese Zeilen geschrieben werden, ist die Entwicklung noch lange
nicht abgeschlossen.

"Die Erde dreht sich weiter ..."

Der bekannte amerikanische Kommentator Lipmann hat in einem Artikel
darauf hingewiesen, die neue Entwicklung in den bisherigen Satellitenstaa-
ten werde sich in Etappen vollziehen, und es erscheine ihm wünschenswert,
daß Ungarn zunächst nicht weiter als bis zu einem nationalkommunistischen
Titoismus gehe. Fertige Rezepte — noch dazu von einem Ausländer — pflegen
nun kaum jemals in der Politik befolgt zu werden. Die These der Etappen
mag durchaus richtig sein, wie weit aber einzelne Phasen führen, das hängt
von den jeweiligen Umständen ab. So wie die Warschauer Vorgänge mit der
Einsetzung Gomulkas zum Parteichef und der Ausbootung Rekossowskis aus
dem Politbüro nach Budapest ausstrahlten, so werden sich zweifellos die
blutigen und revolutionären Ereignisse in Ungarn bald auch — trotz aller
Vertuschungsversuche der Machthaber — in den anderen Ländern des Sowjet-
gefolges herumsprechen. Die überlauten Versicherungen der Satrapen in
Prag und Pankow, in Sofia und Bukarest, dort sei alles in bester Ordnung und
könne Ähnliches niemals passieren, verraten deutlich genug die Besorgnis vor
einer "Ansteckung".

Moskau ist mit eigenen Kommentaren zu Ungarn bisher äußerst zurückhaltend
gewesen. Der einzige Prominente, der sich vor Auslandsjournalisten eine
kurze, vieldeutige Stellungnahme abrang, war der neue Außenminister Sche-
pilow. Der gab in allgemeinen Wendungen zu, daß schwere Fehler begangen
worden seien. Er schloß mit dem sarkastischen und ziemlich hintergründigen
Satz: "Die Erde dreht sich weiter". Sollten diese Worte lediglich einem "Na
wenn schon" Ausdruck verleihen oder vielleicht doch darauf hinweisen, daß
eben alles in Bewegung ist und somit auch das für die Ewigkeit gedachte
Satellitensystem sein Antlitz gründlich verändern kann ? Sicher ist Moskau
nach den letzten Geschehnissen alles andere als freudig und glücklich ge-
stimmt. In einem Land, auf dessen besondere Ergebenheit, man rechnete,
hat sich das ganze Volk gerade gegen die Sowjets erhoben. Hier die alten
Bastionen zurückerobern zu wollen, hieße dieses Land in einen Kirchhof zu
verwandeln. Die ganze Welt aber hat es miterlebt, daß die Soldaten des
angeblich "ersten Arbeiterstaates der Welt" auf Arbeiter und Bauern schos-
sen; sie wird diese Schandtaten der Moskauer "Friedensfreunde" und
"Koexistenzler" wahrlich nicht vergessen.

Quelle: OSTPREUSSENBLATT, 3. November 1956.

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