1951: Mehr enttäuschte als erfüllte Erwartungen.

1951: Mehr enttäuschte als erfüllte Erwartungen.

Beitragvon -sd- » 06.11.2018, 09:48

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Ostpreußen im Lager Uelzen.
Mehr enttäuschte als erfüllte ErwartungenWas soll nun werden ?


Die Arbeitslage im Bundesgebiet ist nicht erfreulich. Dies wissen wir Heimatvertriebenen
leider nur allzu gut, denn in unseren Reihen finden sich, in Prozenten gemessen, die meisten
Unterstützungsempfänger.

Die Lebensbedingungen in Westdeutschland sind aber den in der Ostzone herrschenden weit
vorzuziehen, und noch höher ist die Freiheit zu veranschlagen, die der Einzelne im Westen
genießt. Diese Freiheit übt einen großen, vielleicht den stärksten Anreiz aus. Viele aus der
Ostzone möchten nur zu gerne herüber kommen, doch die Bundesregierung schiebt diesem
Verlangen einen Riegel vor. Die Aufnahmefähigkeit ist schon überschritten, argumentiert sie.
Abgesehen von besonders gelagerten Fällen soll die Türe nur den unzweifelbar echten poli-
tisch Verfolgten und Bedrohten offenstehen. Wie weit erstreckt sich dieser Begriff ?

Aufgenommen werden nur etwa 30 v. H.

Die Grenzgänger aus dem Osten werden zu ihrer Überprüfung in die Lager Uelzen und
Gießen eingewiesen. Uelzen liegt näher der Grenze, rund 200 Bittende treffen hier täglich
mit banger Erwartung ein. Das Recht zum Aufenthalt im Bundesgebiet erhalten nur etwa
30 v. H. Das Urteil sprechen die Vertreter der Länderkommission. Es ist kein beneidens-
wertes Amt, hier entscheiden zu müssen, und die erlassenen Richtlinien zu befolgen. Das
Herz bekommt dabei manchmal einen Stoß. Die mit der Überprüfung beauftragten Beamten
müssen vorsichtig und von Amtswegen auch mißtrauisch sein, denn unter die Aufnahme-
bewerber schleichen sich mitunter kommunistische Spitzel und Agenten ein, die geheime
Aufträge ausführen sollen. Kriminelle Elemente versuchen sich ebenfalls zu tarnen, um
einer Fahndung zu entgehen. Manche Gesichter gefallen einem nicht ... Ferner muß die
Einschleppung von Seuchen oder anderen ansteckenden Krankheiten verhindert werden.

Wer zur rechten Zeit Einschlupf in den Westen fand, vergißt mitunter, was diejenigen
heute noch zu leiden haben, denen dies nicht gelang. Und wer nach wie vor, vom Kriegs-
geschehen weniger berührt, auf seinem unangetasteten Besitztum lebt, denkt vielleicht
gar nicht daran, er möchte auch gar nicht darauf hingewiesen werden.

Unter den Aufnahmebegehrenden befindet sich immer eine große Anzahl von Ostpreußen,
die in der Ostzone hängen blieben oder nach dem Kriege dorthin transportiert wurden.
Eine junge, etwa dreißigjährige Frau weint fassungslos. In Ostpreußen verhungerten ihre
Kinder; sie selbst war der Gewalt der Russen ausgeliefert; ihr Mann ist gefallen. Abgeris-
sen und unterernährt schleppte sie sich nach Litauen, und die litauischen Bauern verhielten
sich wie Christen. Sie kam wieder zu Kräften.

Seit zwei Jahren ist sie in der Ostzone. Nun wurde ihr zugemutet, in die 'Sowjet-deutsche
Freundschaft' einzutreten. Unter den zehn Punkten, die die Beitretenden durch ihre Unter-
schrift bekräftigen müssen, befindet sich auch die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie. Sie
konnte sich zu der Lüge nicht aufraffen, alles rebellierte in ihr. "Freundschaft mit den
Bolschewisten, die mir so viel angetan haben, die meine Kinder verhungern ließen ? —
Nein ! — Niemals !"

Wegen Verweigerung der Unterschrift verlor sie ihren Arbeitsplatz; eine neue Beschäfti-
gung erhielt sie nicht. Die Arbeit wird drüben auch knapp, außerdem war sie als Gegnerin
der sowjetischen Freundschaft abgestempelt. Sie ging über die Grenze; bei Lübeck stellte
sie die westdeutsche Polizei.

Die Länderkommission lehnte die Aufnahme der Frau ab. Die Verstörte begreift nicht ...
faßt es nicht, — in die Ostzone soll sie zurück ... in die Ostzone ... die Tränen ersticken
ihre Stimme ... reden kann sie nicht mehr.

Ein altes, vergrämtes Ehepaar hofft, daß ihm der Zuzug zu seinen drei im Westen woh-
nenden Töchtern gestattet wird; ein Lehrer freut sich; er hat schon den ersehnten Schein
in der Tasche. Die Pfalz nimmt ihn auf.

Bedächtig spricht ein breitschultriger Mann in umgefärbter Länderuniform. Ein Bauer will
ihn einstellen. Wohnraum steht zur Verfügung, doch das Wohnungsamt macht Schwierig-
keiten. Die Frau, — ja die ist mit den Kindern noch in Masuren. Siebzehn und neunzehn
Jahre sind die jetzt alt. Der Junge fährt einen Traktor. Als Arbeitskräfte sind die dort gut
zu gebrauchen.

Er weiß nicht, wie er die Familie herausholen soll. Er war Soldat, die Seinen wurden über-
rollt. Sie haben für Polen optieren müssen. Als die Frau sich weigerte, wurden ihr, zwei
Zähne ausgeschlagen. Die andern hat sie behalten, ... eben weil sie unterschrieb. Alles
steht schwarz auf weiß in ihren Briefen. Er trägt sie immer bei sich.

Da sind drei junge Burschen. Ermländer "Umsiedlersöhne" und Nachbarskinder. Sie kommen
in das Jugenddorf Adelheide bei Delmenhorst. Die Jugend wird nicht abgewiesen. "Warum
seid Ihr gekommen ?" „Der Vater kann auf der Siedlung nicht mehr bestehen; er bekommt
das 'Soll' nicht zusammen, sie werden ihn wegjagen“. Und sie erzählen:

Zwanzig Hektar ist die Siedlung groß. Das Getreide wird weggenommen, aber sechs Zentner
Fleisch soll die Wirtschaft abliefern, auch noch 950 Liter Milch im Vierteljahr. Jedem Sied-
ler ist auferlegt worden, sieben Schweine zu mästen. Aber Futter für das Vieh ist nicht da;
was stopft man ihm dann in's Maul ? Wer das Soll nicht erfüllte, durfte früher gar nichts
einschlachten, jetzt, infolge der sich mehrenden Fälle, wenigstens siebzig Kilo. Das muß
jahrüber für die ganze Familie reichen. An Zuteilungen erhält der Siedler nur ein Pfund
Zucker im Monat, Streichhölzer und Seifenpulver.

Zu Hause bleiben, das ging nicht mehr. Da waren zu viele Münder, die satt werden wollten.
Und beileibe wollten sie sich später nicht auf einer solchen Siedlung nutzlos plagen. Sie
suchten sich Arbeit: Rostabklopfen auf einer Werft. War keine angenehme Sache, und
jeden vierten Tag untersuchte der Arzt die Lungen. Das hätten sie ja noch auf sich genom-
men, aber sie fanden keine Unterkunft. Zur Arbeitsstätte hatten sie einen Weg von zwanzig
Kilometer, vierzehn Kilometer Eisenbahn, sechs Kilometer zu Fuß. Zweimal am Tage mußten
sie diese Strecke zurücklegen, abends mit müden Gliedern; manchmal gab es auch eine
Nachtschicht. Als Lohn erhielten sie 200 bis 240 Ostmark im Monat. Hundert Ostmark kosten
ein Paar Schuhe.

Seit kurzem kann man „drüben" das Brot frei, ohne Marken, kaufen. Ganz gewiß eine Er-
leichterung, aber das Dreipfundbrot kostet 1,50 Ostmark. Nicht jeder Arbeiter verdient so
viel Geld wie die Rostklopfer.

Natürlich waren sie in der FDJ ('Freie Deutsche Jugend'), konnten ja nicht anders. Es war
immer dieselbe abgespielte Walze: immer neue Zirkel, Schulungsabende und ähnliches.
In jedem Amtszimmer hängen Stalinbilder. — Alles schimpft. — "Gehen Sie mal auf den
Tanzboden, reden Sie mal mit den Leuten, das heißt, wenn kein Spitzel herumlungert.
Na, danke, — ohne uns !"

Die Ostpreußen halten hier zusammen ? Hier gibt es eine Landsmannschaft ? — Zusammen-
gehalten haben wir auch, aber mehr so nachbarlich und mit den andern Jungs. — Jetzt
wollen wir einmal weitersehen ... bleiben dürfen wir ja !

In der großen Stadt rollen grell leuchtende Lichtreklamen; Menschen strömen in's Kino.
Aus einem großen Lokal dringen aufreizende Saxophonklänge. Im Schaufenster nebenbei
sind schlanke und bauchige Flaschen aufgestellt, 8, 10, 12 DM steht auf den Preisschildern.
In den Wohnungen brennt Licht; die Familienmitglieder sitzen wohl beieinander, ... oft
zanken sie sich wegen Nichtigkeiten. Sie haben es warm.

Auf ihrer Bettstatt in Uelzen liegt schlummerlos eine Frau, die alles verlor, was ihr auf
dieser Erde lieb war, und die das tat, was ihr das Gewissen vorschrieb. Morgen wird sie
ausgewiesen ... Warum ? ... Warum ? Immer wieder hämmert diese Frage, — und dann
kommt das Entsetzen: Was soll nun werden ? Es ist kalt draußen im Freien, und Hunger
tut weh ... und wer gibt ihr, Arbeit ? War es ihre Schuld, daß sie in Ostpreußen geboren
wurde und daß sie in die Mahlsteine grausamer Gewalten geriet ?

Quelle: OSTPREUSSENBLATT, 5. Februar 1951

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