Zwischen 1709/1711 nicht weniger als 241.171 Tote.

Zwischen 1709/1711 nicht weniger als 241.171 Tote.

Beitragvon -sd- » 18.03.2017, 13:32

-------------------------------------------------------------------------------------------------------

Vor 150 Jahren. Die Pest in Ostpreußen.
Ein trauriges Kapitel in der Geschichte unseres Landes.

Vor der Geißel der Pest verlassen die Bürger die verseuchten Städte und fliehen
auf das offene Land. Aber das schwarze Gespenst folgt ihnen überallhin.

In mancher Stadt Ostpreußens fand man noch die Flurbezeichnung 'Alter Pestfried-
hof', und jeder Nehrungswanderer kennt jene einsame Stätte, wo die Wanderdüne
gebräunte Gebeine der vor einem Vierteljahrtausend dort an der Pest Verstorbenen
freiwillig wieder hergab. Die Pest — das war der grausige Würgeengel, der in jenen
Zeiten meist im Gefolge von Kriegen durch die Länder zog. Es muß wohl die Lungen-
pest gewesen sein, die heute Gottlob so gut wie ausgestorben ist.

Auch die große Pest-Epidemie, die Ostpreußen, beginnend im Jahre 1708, fast zu
entvölkern drohte, scheint auf dem Boden des Krieges gewachsen zu sein. Es waren
damals die Zeiten des großen Nordischen Krieges, in dem Schweden, Polen und
Rußland um die Herrschaft über die Ostsee rangen. In Polen, an der Weichsel,
zeigten sich die ersten Krankheitsfälle. Der damalige Stand der ärztlichen Wissen-
schaft kannte keine rechten Gegenmaßnahmen, und so griff man zum einfachsten,
freilich auch unsichersten Mittel, zur Absperrung. Entlang der preußisch-polnischen
Grenze wurden regelrechte Verhaue angelegt, Brücken wurden abgebrochen, die
Landmiliz mußte Pestwachen stellen, und einzelne Dörfer Masurens, wie z. B.
Bialutten, umgaben sich zur Kontrolle des Verkehrs sogar mit Palissaden. Beson-
ders scharf ging man vor gegen die zahlreichen aus Polen kommenden Bettler,
gegen Hausierer und jüdische Wanderkaufleute.

Nun war aber der Winter 1708/1709 ganz ungewöhnlich hart und lang. Haffe und
Flüsse tauten erst im späten Frühjahr auf, erst am 15. Mai lief das erste Schiff im
Königsberger Hafen ein, Pfingsten blühte noch kaum eine Blume. Das Getreide war
größtenteils ausgefroren, und da die Kornvorräte nicht hin und her reichten, so
entstand in mancher Gegend geradezu eine Hungersnot. Auf die unterernährte
und wenig widerstandsfähige Bevölkerung stieß die Pest.

Wir geben nun Zahlen und Ereignisse zum größten Teil nach einer vor 40 Jahren
aus der Feder von Dr. W. Sahm erschienenen sehr wissenschaftlichen Abhandlung,
die heute wohl kaum noch erreichbar sein dürfte. Danach begann die Pest in
Königsberg Anfang August 1709. Hatte ihr auf dem Lande der Hunger den Weg
geebnet, so taten das in den Städten die heute beinahe unfaßbaren sanitären
Verhältnisse. In den Verordnungen des Königsberger Magistrats zeigt sich das mit
erschreckender Deutlichkeit: das Trinkwasser ist schlecht, faule Gräben, die sog.
Flüsse durchziehen große Teile der Stadt, Kästen mit Dung stehen an den Häusern,
"Unlust und Unflat" wird auf die Straße geschüttet und aus Bequemlichkeit wird
"Auswurf von Mensch und Vieh" sowie der Inhalt der Aborte in die Rinnsteine ent-
leert, auf daß, sichein gütiger Regen ihrer erbarme.

Beim ersten Auftauchen der Pest verließ die Regierung die Stadt, aber sie kam
nicht mehr zu ihrer bisherigen Ausweichstelle Brandenburg am Haff, da auch
Natangen schon gefährdet erschien, sondern verlegte ihren Sitz nach Wehlau.

Massenweise erkrankten die Menschen, immer unter den gleichen Anzeichen,
Hitze und Fieber, Erbrechen, Anschwellungen. Alle die Mittelchen, wie man sie
bei früheren Pest-Epidemien, dem "Englischen Schweiß", angewendet hatte,
der "wundertätige Giftbalsam", die "Herzschilder" auf dem bloßen Körper und
dergleichen versagten. Und so griff man schließlich wieder zum Allheilmittel
der Absperrung. Königsberger Truppen besetzten Wälle und Tore, Einfuhrwege
wurden durch Zäune und Verhaue gesperrt.

In der Stadt bildete sich ein neuer Stand aus allen, die mit der Pest und ihren
Opfern zu tun hatten, die "Pestkerle und Pestweiber", die "Pestbalbierer" und
als Aufsicht die Pestärzte. Als Abzeichen trugen sie alle Mäntel aus schwarzem
Wachstuch. Das Unterpersonal bestand wohl kaum aus den honorigsten Leuten,
der hohe Lohn verhexte Abenteurer, Landstreicher und Sträflinge dazu, sich um
die Posten zu bewerben, bei denen manch guter Nebenverdienst heraussprang.
Wenn irgend möglich, wurden die Kranken in "Pesthäusern" isoliert. Der ärztliche
Dienst sollte in der Regel nachts versehen werden, nachts wurden auch die Leichen
abgefahren, sehr viele nach den Lehmgruben am Hochgericht zwischen der späte-
ren Cranzer Allee und dem Oberteich. In der sonst so lebensfrohen und lebhaften
Stadt herrschte in diesem Herbst Totenstille, alles hielt sich möglichst in den
Wohnungen auf, um sich nicht auf der Straße anzustecken; nur die Kirchen waren
überfüllt. Der Bürgermeister Derschau, poetisch wie alle Menschen des Barock,
schilderte diese trostlosen Tage in einem Gedicht, das mit den Worten beginnt:

„Mein armes Königsberg, komm her, hier ist Dein Spiegel,
Der Deine Scheußlichkeit Dir vor die Augen stellt !"
Die Pest wollte und wollte nicht aufhören.

Der Gouverneur, General Herzog v. Holstein-Beck, ließ seine Truppen zu einer
doppelten Sperrkette verstärken. Trotzdem aber mußten doch Lebensmittel in
die Stadt. Mit langen Stangen wurden sie den Soldaten durch die Holzgitter ge-
reicht. Dadurch wurde der Soldat zum ersten Käufer und konnte seinen kargen
Sold durch den Weiterverkauf recht erheblich aufbessern.

Indessen wurden jetzt allmählich die Stimmen immer lauter, die gegen den
Unsinn der Absperrung protestierten. Allmählich hatte auch die Epidemie
ihren Höhepunkt überschritten, jede Seuche pflegt ja nach einer gewissen
Zeit abzuklingen. Nach langem Hin und Her mit Berlin konnte endlich drei
Tage vor Weihnachten die Absperrung aufgehoben werden. Die Schreckens-
Wochen hatten im Hinblick auf die damalige Bevölkerungszahl ganz unerhörte
Opfer gefordert. Die ziemlich genau geführten Berichte zählen allein vom
3. September bis 28. Oktober, also zur Zeit des Höhepunktes, nicht weniger
als 9.368 Tote auf. Darunter aber, wie die Chronik berichtet, nur etwa 200 aus
den wohlhabenden Ständen. Wahrscheinlich verstanden sie sich besser zu
schützen.

Aber anscheinend waren mit dem Abklingen der Epidemie nun doch nicht alle
Berufe zufrieden, denn in einem Gedicht aus jenen Tagen heißt es nicht ohne
Humor:

„Gottlob, das Pesthaus ist von allen Kranken frei,
Im ganzen Sprengel stirbt kaum einer oder zwei.
Der Kantor klaget jetzt: es gibet keine Leichen,
Der Arme gibet nichts — nichts stirbet von den Reichen !"

Aus der Provinz, besonders aus den Dörfern, besitzen wir leider meist nicht
so genaue Angaben über die Opfer der Pest wie aus Königsberg. Es sind mehr
allgemeine Umrisse, aber erschütternd oft heißt es kurz in den alten Kirchen-
büchern und Grundregistern: "verpestet gewesen, ausgestorben. Haus gleich
geräumet und geräuchert", wobei als Merkwürdigkeit erwähnt sei, daß man
ein Ausräuchern mit Rebhuhnfedern für die beste Desinfektion hielt.

Wie es in den kleinen Landstädten aussah, dafür nur das Beispiel der Stadt
Heiligenbeil. Dort brach 1709 die Pest zugleich in drei Häusern aus. In den
nächsten Monaten raffte die Seuche 104 Einwohner dahin, die Stadt wurde
abgesperrt. Obwohl Bürgermeister und Apotheker ihr Möglichstes taten, stieg
die Zahl auf 1.041, etwa die Hälfte der Bürger. Dazu kamen noch 162 aus den
Dörfern, die zur Kirche Heiligenbeil gehörten.

Aber weit schlimmer als in der natangischen Landschaft wütete die Pest im
Regierungsbezirk Gumbinnen, damals noch Preußisch Lithauen genannt. Hier war
die vorhergegangene Hungersnot besonders unheilvoll gewesen. Als Diät aß man
Träber aus Leinenspreu und Birkenrinde und stellte sich ein berauschendes
Getränk her aus den Gift enthaltenden Körnern eines Raygrases, Roggentrespe
oder Täumellolch genannt. Alter Aberglaube aus der Urzeit wurde wieder
lebendig in den verzweifelten Menschen, man glaubte das weiße Pestgespenst
leibhaftig in den Nächten umherwandeln zu gehen. Ganze Dörfer wurden ent-
völkert.

Auch in Masuren wütete die Pest furchtbar. Leere Häuser, ja leere Dörfer
fand man überall, viel herrenloser Acker und herrenloser Wald fiel an den
Staat, aber anscheinend auch an Unberechtigte, die sich bereichern wollten,
wie denn überhaupt die Moral überall stark nachließ. Aus Angst verließ manche
Familie ihr Dorf und erbaute sich hastig Strohhütten auf freiem Felde oder
suchte Zuflucht im Walde. Übergriffe der zur Absperrung der Grenze komman-
dierten Landmiliz kamen vor, mancher scheinbar Tote ist damals in die Lehm-
grube geworfen worden.

In ganz Ostpreußen wurden zwischen 1709/1711 nicht weniger als 241.171 Tote
gemeldet, ein furchtbarer Verlust für das ohnehin nicht übermäßig stark besie-
delte Land, das gerade begonnen hatte, sich zu erholen von den Folgen des
Tatareneinfalls sechzig Jahre vorher. Wie stets nach solchen Katastrophen
setzte damals im ganzen Lande eine förmliche Heiratswut ein, "vom frischen
Grab aus wurde geheiratet", wie die Chroniken melden.

Indes schien es so, als ob der Himmel wirklich seinen Zorn an dem armen Ost-
preußen auslassen wollte, denn der Pest folgten Vieh- und Pferdeseuchen, die
ganz besonders stark auftraten in den Ämtern Georgenburg, Rhein und Lötzen.
Im Jahr darauf gingen — ein seltsames Ereignis für unseren Osten — starke
Heuschreckenschwärme in Masuren nieder, wie die Chroniken berichten.
Besonders schwer zu leiden hatte das Amt Sechesten und seine Umgegend.

Ein recht trostloses Bild war es, das Ostpreußen nach jenen Jahren darbot.
Aber wie jedes Unglück meist irgendwie auch wieder einen Segen in sich birgt,
so war es auch hier. Viel brachliegendes Land schrie nach Bebauung, und so
war Raum geschaffen für das größte Lebenswerk des preußischen Königs
Friedrich Wilhelm I. Schon als Kronprinz hatte ihn auf seinen Reisen die Ver-
ödung des Landes, besonders des Gumbinner Bezirks, tief erschüttert. Nun
konnte er als König sofort mit seinem „Rentablissement" beginnen, dem
Wiederaufbau, den er trotz mancher Rückschläge drei Jahrzehnte hindurch als
sein Lieblingswerk ohne Rücksicht auf die gewaltigen Kosten mit größter
Tatkraft betrieb. Viel frisches Blut aus dem oberdeutschen Raum kam nach
Ostpreußen, und schließlich nahm er gegen Ende zur Krönung seines Werkes als
geschlossene Volksgruppe die vertriebenen Salzburger auf. Das neue Blut und
der neue Lebenssaft hat unserer Heimat heimischen Landwirtschaft beweist.
Dr. Walter Grosse

Quelle: OSTPREUSSEN-WARTE, März 1958

-------------------------------------------------------------------------------------------------------
Via Ostpreußen-Genealogie-Mailingliste mitgeteilt von Inge Barfels.
Benutzeravatar
-sd-
Site Admin
 
Beiträge: 6347
Registriert: 05.01.2007, 16:50

Zwischen 1709/1711 nicht weniger als 241.171 Tote.

Beitragvon -sd- » 06.10.2020, 10:03

----------------------------------------------------------------------------------------------

In der VFFOW-Veröffentlichung Lothar Berwein 'Ansiedlung von Schweizer
Kolonisten im Rahmen der Repeuplierung Ostpreußens'
, Hamburg, 2003,
steht sehr viel zur Pestepidemie, die ja Ursache der sog. Repeuplierung
Ostpreußens war. Berwein schreibt, daß Ostpreußen, was Epidemien an-
geht, eines der "verseuchtesten" Gebiete Europas war. Im sog. Preußisch-
Litauen starb ca. jeder zweite der ca. 300.000 Bewohner.
Man kann diesen hohen Aderlaß auf die Ausbeutung der Bevölkerung
zurückführen.

Lutz Szemkus

----------------------------------------------------------------------------------------------
angefragt
Benutzeravatar
-sd-
Site Admin
 
Beiträge: 6347
Registriert: 05.01.2007, 16:50


Zurück zu Hungersnot in Ostpreußen 1709 / 1710.

Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 1 Gast