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In mancher Stadt Ostpreußens fand man noch die Flurbezeichnung 'Alter Pestfriedhof', und jeder
Nehrungswanderer kennt jene einsame Stätte, wo die Wanderdüne gebräunte Gebeine der vor
einem Vierteljahrtausend dort an der Pest Verstorbenen freiwillig wieder hergab. Die Pest — das
war der grausige Würgeengel, der in jenen Zeiten meist im Gefolge von Kriegen durch die
Länder zog. Es muß wohl die Lungenpest gewesen sein, die heute Gottlob so gut wie ausge-
storben ist. Vor der Geißel der Pest verlassen die Bürger die verseuchten Städte und fliehen
auf das offene Land. Aber das schwarze Gespenst folgt ihnen überallhin.
Auch die große Pest-Epidemie, die Ostpreußen, beginnend im Jahre 1708, fast zu entvölkern
drohte, scheint auf dem Boden des Krieges gewachsen zu sein. Es waren damals die Zeiten des
großen Nordischen Krieges, in dem Schweden, Polen und Rußland um die Herrschaft über die
Ostsee rangen. In Polen, an der Weichsel, zeigten sich die ersten Krankheitsfälle. Der damalige
Stand der ärztlichen Wissenschaft kannte keine rechten Gegenmaßnahmen, und so griff man
zum einfachsten, freilich auch unsichersten Mittel, zur Absperrung. Entlang der preußisch-
polnischen Grenze wurden regelrechte Verhaue angelegt, Brücken wurden abgebrochen, die
Landmiliz mußte Pestwachen stellen, und einzelne Dörfer Masurens, wie z. B. Bialutten, umgaben
sich zur Kontrolle des Verkehrs sogar mit Palissaden. Besonders scharf ging man vor gegen die
zahlreichen aus Polen kommenden Bettler, gegen Hausierer und jüdische Wanderkaufleute.
Nun war aber der Winter 1708/1709 ganz ungewöhnlich hart und lang. Haffe und Flüsse tauten
erst im späten Frühjahr auf, erst am 15. Mai lief das erste Schiff im Königsberger Hafen ein,
Pfingsten blühte noch kaum eine Blume. Das Getreide war größtenteils ausgefroren, und da die
Kornvorräte nicht hin und her reichten, so entstand in mancher Gegend geradezu eine Hungers-
not. Auf die unterernährte und wenig widerstandsfähige Bevölkerung stieß die Pest.
Wir geben nun Zahlen und Ereignisse zum größten Teil nach einer vor 40 Jahren aus der Feder
von Dr. W. Sahm erschienenen sehr wissenschaftlichen Abhandlung, die heute wohl kaum noch
erreichbar sein dürfte. Danach begann die Pest in Königsberg Anfang August 1709. Hatte ihr
auf dem Lande der Hunger den Weg geebnet, so taten das in den Städten die heute beinahe
unfaßbaren sanitären Verhältnisse. In den Verordnungen des Königsberger Magistrats zeigt
sich das mit erschreckender Deutlichkeit: das Trinkwasser ist schlecht, faule Gräben, die sog.
Flüsse durchziehen große Teile der Stadt, Kästen mit Dung stehen an den Häusern, „Unlust
und Unflat" wird auf die Straße geschüttet und aus Bequemlichkeit wird „Auswurf von Mensch
und Vieh" sowie der Inhalt der Aborte in die Rinnsteine entleert, auf daß, sich ein gütiger
Regen ihrer erbarme.
Beim ersten Auftauchen der Pest verließ die Regierung die Stadt, aber sie kam nicht mehr zu
ihrer bisherigen Ausweichstelle Brandenburg am Haff, da auch Natangen schon gefährdet er-
schien, sondern verlegte ihren Sitz nach Wehlau.
Massenweise erkrankten die Menschen, immer unter den gleichen Anzeichen, Hitze und Fieber,
Erbrechen, Anschwellungen. Alle die Mittelchen, wie man sie bei früheren Pest-Epidemien, dem
"Englischen Schweiß", angewendet hatte, der „wundertätige Giftbalsam", die „Herzschilder"
auf dem bloßen Körper u. dgl. versagten. Und so griff man schließlich wieder zum Allheilmittel
der Absperrung. Königsberger Truppen besetzten Wälle und Tore, Einfuhrwege wurden durch
Zäune und Verhaue gesperrt.
In der Stadt bildete sich ein neuer Stand aus allen, die mit der Pest und ihren Opfern zu tun
hatten, die "Pestkerle und Pestweiber", die „Pestbalbierer" und als Aufsicht die Pestärzte.
Als Abzeichen trugen sie alle Mäntel aus schwarzem Wachstuch. Das Unterpersonal bestand
wohl kaum aus den honorigsten Leuten, der hohe Lohn verhexte Abenteurer, Landstreicher
und Sträflinge dazu, sich um die Posten zu bewerben, bei denen manch guter Nebenverdienst
heraussprang. Wenn irgend möglich, wurden die Kranken in „Pesthäusern" isoliert. Der ärzt-
liche Dienst sollte in der Regel nachts versehen werden, nachts wurden auch die Leichen
abgefahren, sehr viele nach den Lehmgruben am Hochgericht zwischen der späteren Cranzer
Allee und dem Oberteich. In der sonst so lebensfrohen und lebhaften Stadt herrschte in
diesem Herbst Totenstille, alles hielt sich möglichst in den Wohnungen auf, um sich nicht
auf der Straße anzustecken; nur die Kirchen waren überfüllt. Der Bürgermeister Derschau,
poetisch wie alle Menschen des Barock, schilderte diese trostlosen Tage in einem Gedicht,
das mit den Worten beginnt:
„Mein armes Königsberg, komm her, hier ist Dein Spiegel,
der Deine Scheußlichkeit Dir vor die Augen stellt."
Die Pest wollte und wollte nicht aufhören. Der Gouverneur, General Herzog v. Holstein-Beck,
ließ seine Truppen zu einer doppelten Sperrkette verstärken. Trotzdem aber mußten doch
Lebensmittel in die Stadt. Mit langen Stangen wurden sie den Soldaten durch die Holzgitter
gereicht. Dadurch wurde der Soldat zum ersten Käufer und konnte seinen kargen Sold durch
den Weiterverkauf recht erheblich aufbessern. Indessen wurden jetzt allmählich die Stimmen
immer lauter, die gegen den Unsinn der Absperrung protestierten. Allmählich hatte auch die
Epidemie ihren Höhepunkt überschritten, jede Seuche pflegt ja nach einer gewissen Zeit
abzuklingen. Nach langem Hin und Her mit Berlin konnte endlich drei Tage vor Weihnachten
die Absperrung aufgehoben werden. Die Schreckenswochen hatten im Hinblick auf die da-
malige Bevölkerungszahl ganz unerhörte Opfer gefordert. Die ziemlich genau geführten
Berichte zählen allein vom 3. September bis 28. Oktober, also zur Zeit des Höhepunktes,
nicht weniger als 9.368 Tote auf. Darunter aber, wie die Chronik berichtet, nur etwa 200
aus den wohlhabenden Ständen. Wahrscheinlich verstanden sie sich besser zu schützen.
Aber anscheinend waren mit dem Abklingen der Epidemie nun doch nicht alle Berufe zu-
frieden, denn in einem Gedicht aus jenen Tagen heißt es nicht ohne Humor:
„Gottlob, das Pesthaus ist von allen Kranken frei,
Im ganzen Sprengel stirbt kaum einer oder zwei.
Der Kantor klaget jetzt: es gibet keine Leichen,
Der Arme gibet nichts — nichts stirbet von den Reichen."
Aus der Provinz, besonders aus den Dörfern, besitzen wir leider meist nicht so genaue
Angaben über die Opfer der Pest wie aus Königsberg. Es sind mehr allgemeine Umrisse, aber
erschütternd oft heißt es kurz in den alten Kirchenbüchern und Grundregistern: „verpestet
gewesen, ausgestorben. Haus gleich geräumet und geräuchert", wobei als Merkwürdigkeit
erwähnt sei, daß man ein Ausräuchern mit Rebhuhnfedern für die beste Desinfektion hielt.
Wie es in den, kleinen Landstädten aussah, dafür nur das Beispiel der Stadt Heiligenbeil.
Dort brach 1709 die Pest zugleich in drei Häusern aus. In den nächsten Monaten raffte die
Seuche 104 Einwohner dahin, die Stadt wurde abgesperrt. Obwohl Bürgermeister und Apo-
theker ihr Möglichstes taten, stieg die Zahl auf 1.041, etwa die Hälfte der Bürger. Dazu
kamen noch 162 aus den Dörfern, die zur Kirche Heiligenbeil gehörten. Aber weit schlimmer
als in der natangischen Landschaft wütete die Pest im Regierungsbezirk Gumbinnen, damals
noch Preußisch Lithauen genannt. Hier war die vorhergegangene Hungersnot besonders
unheilvoll gewesen. Als Diät aß man Träber aus Leinenspreu und Birkenrinde und stellte
sich ein berauschendes Getränk her aus den Gift enthaltenden Körnern eines Raygrases,
Roggentrespe oder Täumellolch genannt. Alter Aberglaube aus der Urzeit wurde wieder
lebendig in den verzweifelten Menschen, man glaubte das weiße Pestgespenst leibhaftig
in den Nächten umherwandeln zu gehen. Ganze Dörfer wurden entvölkert.
Auch in Masuren wütete die Pest furchtbar. Leere Häuser, ja leere Dörfer fand man überall,
viel herrenloser Acker und herrenloser Wald fiel an den Staat, aber anscheinend auch an
Unberechtigte, die sich bereichern wollten, wie denn überhaupt die Moral überall stark
nachließ. Aus Angst verließ manche Familie ihr Dorf und erbaute sich hastig Strohhütten
auf freiem Felde oder suchte Zuflucht im Walde. Übergriffe der zur Absperrung der
Grenze kommandierten Landmiliz kamen vor, mancher scheinbar Tote ist damals in die
Lehmgrube geworfen worden.
In ganz Ostpreußen wurden zwischen 1709/1711 nicht weniger als 241.171 Tote gemeldet,
ein furchtbarer Verlust für das ohnehin nicht übermäßig stark besiedelte Land, das gerade
begonnen hatte, sich zu erholen von den Folgen des Tatareneinfalls sechzig Jahre vorher.
Wie stets nach solchen Katastrophen setzte damals im ganzen Lande eine förmliche Heirats-
wut ein, „vom frischen Grab aus wurde geheiratet", wie die Chroniken melden. Indes schien
es so, als ob der Himmel wirklich seinen Zorn an dem armen Ostpreußen auslassen wollte,
denn der Pest folgten Vieh- und Pferdeseuchen, die ganz besonders stark auftraten in den
Ämtern Georgenburg, Rhein und Lötzen. Im Jahr darauf gingen — ein seltsames Ereignis
für unseren Osten — starke Heuschreckenschwärme in Masuren nieder, wie die Chroniken
berichten. Besonders schwer zu leiden hatte das Amt Sechesten und seine Umgegend.
Ein recht trostloses Bild war es, das Ostpreußen nach jenen Jahren darbot. Aber wie jedes
Unglück meist irgendwie auch wieder einen Segen in sich birgt, so war es auch hier. Viel
brachliegendes Land schrie nach Bebauung, und so war Raum geschaffen für das größte
Lebenswerk des preußischen Königs Friedrich Wilhelm I. Schon als Kronprinz hatte ihn auf
seinen Reisen die Verödung des Landes, besonders des Gumbinner Bezirkes, tief erschüttert.
Nun konnte er als König sofort beginnen mit seinem „Rentablissement", dem Wiederaufbau,
den er trotz mancher Rückschläge drei Jahrzehnte hindurch als sein Lieblingswerk ohne
Rücksicht auf die gewaltigen Kosten mit größter Tatkraft betrieb. Viel frisches Blut aus dem
oberdeutschen Raum kam nach Ostpreußen, und schließlich nahm er gegen Ende zur Krönung
seines Werkes als geschlossene Volksgruppe die vertriebenen Salzburger auf. Das neue Blut
und der neue Lebenssaft hat unserer Heimat heimischen Landwirtschaft beweist.
Dr. Walter Grosse
Quelle: OSTPREUSSEN-WARTE, März 1958
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Die Pest in Ostpreußen.
z.B. die Pest 1709 / 1710.
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