Das Zeitalter der Heimatlosen.

...

Das Zeitalter der Heimatlosen.

Beitragvon -sd- » 24.12.2016, 16:39

---------------------------------------------------------------------------------------------------

Neue menschliche Taten sind nötig !
Von Minister a. D. Dr. Heinrich Weitz, Präsident des Deutschen Roten Kreuzes.

Im Dezember 1958 beschlossen die Vereinten Nationen, im 'Weltflüchtlingsjahr'
vom Juni 1959 bis Juni 1960 gemeinsam gegen die noch beträchtlichen und
hartnäckigen "Restbestände der Flüchtlingsnot" anzugehen. 54 Nationen des
westlichen Kulturbereichs schlossen sich dem Gemeinschaftsprogramm an.
Ihre Regierungshäupter — in der Bundesrepublik der Herr Bundespräsident —
übernahmen persönlich die Schirmherrschaft über diese geplante Großaktion
des Weltgewissens und der Humanität.

Neue menschliche Taten sind nötig geworden, um mit diesem aus der Un-
menschlichkeit geborenen und in der ganzen Welt zählebigen Problem fertig
zu werden, damit die Menschheit nicht durch die Gewöhnung an die Flüchtlings-
not abstumpfe und sie nicht als natur- oder zeitbedingtes unabwendbares
Schicksal hinnehme.

Das Zeitalter der Heimatlosen.

Die Geschichtsbücher künden von der Völkerwanderung um 400 bis 600 nach
Christi als dem großen Völkerunglück der Menschheit. Dabei bewegte sich
während jener ganzen 300 Jahre auf Europas Fluchtstraßen nur der Bruchteil
eines Prozents jener Flüchtlingszahl, die allein die erste Hälfte unseres
Jahrhunderts erbrachte: 150 Millionen.

Wir Deutschen wurden am stärksten betroffen. In der Bundesrepublik leben
12 ½ Millionen Flüchtlinge und Vertriebene, d. h. ein rundes Viertel der
Gesamtbevölkerung. Zwar sind inzwischen für sie 5 ½ Millionen neue Arbeits-
plätze geschaffen und ihre materiellen Nöte weitgehend gebannt worden.
Aber noch immer gibt es 350.000 Menschen in Lagern und 500.000 in
Notwohnungen. Sie verloren in ihrer Heimat rund 250 Milliarden DM an
materiellen Werten
, wovon ihnen bisher 42 Milliarden aus öffentlichen
Mitteln an Teilentschädigungen wiedergegeben werden konnten, ungeachtet
der freiwilligen Hilfeleistungen aus der Bevölkerung.

Währenddessen reißt der Flüchtlingsstrom nicht ab; das Jahr 1958 brachte
über 200.000 Flüchtlinge aus der Sowjetzone und 134.000 Aussiedler aus den
polnisch verwalteten deutschen Ostgebieten und aus Polen sowie der UdSSR

in unser Land. Viele — die Jungen, Gesunden, Arbeitsfähigen — können sich
gottlob selbst helfen. Die Schwachen, Alten und Kranken jedoch sind auf die
Hilfe des Staates und ihrer Nächsten angewiesen.

Experten der Flüchtlingsnöte.

Aber es geht bei den Aktionen im Weltflüchtlingsjahr nicht allein und nicht
einmal vordringlich um materielle Hilfeleistungen. Der Staat und sein
Verwaltungsapparat können nie auf die individuellen und die mannigfachen
seelischen Nöte der Flüchtlinge eingehen. Dazu bedarf es der Hilfe des
Nächsten, seiner Opferbereitschaft, Geduld, Zeit, seiner Gedanken und
seines Mitfühlens.

Die Helferinnen und Helfer des Deutschen Roten Kreuzes, zusammen mit
gleichgesinnten Helfern der anderen Wohlfahrtsverbände und der Kirchen,
stehen seit 14 Jahren an den Schleusen und Brennpunkten der Flüchtlingsnot:
auf den Bahnhöfen an den Flüchtlingstransporten, in den Auffang-, Durchgangs-
und Dauerlagern, den Wohnheimen für die Flüchtlingsjugend, den Kranken-
häusern, Erholungs- und Kinderheimen für Vertriebene und Umsiedler und
bei Besuchen in den Wohnungen derer, die langsam in ihre neue Umgebung
eingegliedert werden. Sie haben sich dabei ein großes 'Fachwissen' ange-
eignet und sind gewissermaßen zu "Experten der Flüchtlingsnöte" geworden.
Trotz ihrem langen Einsatz an einer oft unlöslich erscheinenden Aufgabe
sind sie darüber nicht stumpf geworden, sondern haben, von der Idee des
Helfen-wollens erfüllt, Herz und Blick wachgehalten für die großen und
kleinen Nöte der Hilfeheischenden und Hilfsbedürftigen
.

Weltweite Rotkreuz-Pflichten.

Getreu der Forderung Henri Dunants, jedem ohne Ansehen der Person, der
Rasse, Volks- und Religionsangehörigkeit beizustehen, hat sich das DRK
besonders der Hilflosesten angenommen. Dazu gehören auch die 230.000
Ausländer, die in unserem Land geblieben sind: die andere Sprache, die
verschiedenartigen Lebensgewohnheiten, nationale Vorurteile und der harte
Daseinskampf der letzten Jahre machten dieser Flüchtlingsgruppe das Leben
besonders schwer. Noch 16.000 von ihnen leben bei uns in Lagern.

Andererseits hätte das DRK ohne die andauernde und selbstlose Unterstützung
durch die ausländischen Rotkreuzgesellschaften niemals ein solches Maß an
Flüchtlingshilfe leisten können. Tausende Tonnen hochwertiger Lebensmittel,
Bekleidung, Einrichtungsgegenstände, Medikamente und Kinderspielzeug aus
Auslandsspenden konnten jahrelang verteilt werden.

Das Weltflüchtlingsjahr gibt uns jetzt die Gelegenheit, einen Teil der auflau-
fenden Dankesschuld für die uns zuteil gewordene Hilfe aus jenen Jahren
abzutragen. — Trostlos ist z. B. noch heute die Lage der arabischen Flüchtlinge
aus Palästina, die in Massenlagern in Jordanien, Libanon und der Vereinigten
Arabischen Republik leben, der China-Flüchtlinge in Hongkong, der Algerier
in Marokko und Tunesien, der Tibetaner in Indien und auch der Flüchtlinge
in manchem anderen Land.

Achtzehn Jahre Lagerdasein.

Zwar haben sich im Laufe der Jahre die Zahlen vermindert, doch hat sich das
Problem von einer anderen Seite her verschärft. Denn sozial eingegliedert in
die Aufnahmeländer wurden meist nur die Jungen, Gesunden, Leistungsfähigen,
die den Einwanderungsbehörden als willige und oft billige Arbeitskräfte will-
kommen waren. Zurückgelassen und verlassen in den Lagern blieben die nicht
voll Leistungsfähigen; ganze Familien wurden zum Beispiel von der Einwanderung
in aufnahmefähige Länder ausgeschlossen, weil nur ein einziges Familienmitglied
krank, behindert oder unterstützungsbedürftig war. Es gibt darunter Familien,
die seit achtzehn Jahren ununterbrochen in Lagern leben; ihre Kinder wurden
dort geboren und wuchsen in diesem Milieu der Hoffnungslosigkeit heran.

Gerade diese Menschen aus ihrem Elend zu befreien, ist im Weltflüchtlingsjahr
eine vordringliche Aufgabe, für deren Lösung sich auch das DRK mit allen seinen
Kräften und Erfahrungen einsetzen muß. Es ruft seine Mitglieder, Förderer,
Freunde und die Öffentlichkeit dazu auf, sich in den kommenden Monaten
wirkungsvoll an jener internationalen Aktion zu beteiligen, die das Flüchtlings-
elend, den Schandfleck unserer Zivilisation und unseres Jahrhunderts, endgültig
tilgen soll.

Quelle: OSPTPREUSSEN-WARTE, September 1959

---------------------------------------------------------------------------------------------------
Benutzeravatar
-sd-
Site Admin
 
Beiträge: 6347
Registriert: 05.01.2007, 16:50

Zurück zu Die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus den Gebieten östlich der Oder-Neiße.

Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 3 Gäste