Würgegriff schließt sich um die Stadt Königsberg.

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Würgegriff schließt sich um die Stadt Königsberg.

Beitragvon -sd- » 09.12.2016, 17:14

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Würgegriff schließt sich um die Stadt.

Infolge der rasenden Geschwindigkeit, mit der sich die am zwölften Tag des
Jahres 1945 über die deutsche Ostfront hereingebrochene Katastrophe aus-
breitete, hatten die Königsberger noch am 20. Januar keine Vorstellung von
der Nähe der ihnen drohenden Gefahr. Zwar hatte die Nachricht von der
Räumung der Hindenburggruft, der Fortschaffung der Sarkophage und der
Sprengung des Tannenberg-Denkmals sie stark erregt. Sogar die Toten ver-
ließen Ostpreußen, da sollte man doch vielleicht … Bürger aus Memel,
Tilsit, Gumbinnen mit Koffern und Kisten drängten sich auf den Bahn-
steigen vor den Zügen nach dem Westen. Wüste Szenen spielten sich da
auf dem Hauptbahnhof ab, während durch die nachtdunklen Straßen der
Stadt die Kette der Bauerntrecks fast lautlos zog. Schneepolster auf den
Fahrdämmen schluckten die Geräusche trappelnder Hufe todmüder Pferde
vor Wagen, auf denen zwischen Hausrat und Proviantsäcken, schlafende
Kinder, sorgende Mütter, fiebernde Kranke und stumpfe Greise hockten.
Nur wenige Königsberger sahen diese nächtlichen Gespensterzüge - am Tage
durften keine Trecks die Stadt durchfahren - und vernahmen die Warnung,
die von ihnen ausging.

Immerhin, von einer ernsthaften Unruhe in der großen Masse der Königsberger
Bevölkerung war nichts zu spüren. Diese Menschen, die tagsüber ihrer
Beschäftigung in Werkstätten, Läden, Büros, Fabriken nachgingen, nachts sich
in ihren Häusern und Kellern zu neuem Schaffen ausruhten, wollten an keine
ernste Gefahr glauben. Die Russen waren 1914 viel tiefer nach Ostpreußen
hereingekommen und hatten doch wieder hinausgemußt. Es würde auch diesmal
schon wieder gut werden. Da ließ plötzlich ein Ereignis die Gefahr in hellem
Licht erscheinen und die bisherige Ruhe in wilde Panikstimmung umschlagen.
In der Nacht zum 21. Januar schickte die Gauleitung ihre Familienangehörigen
in einem Sonderzug fort, vom Güterbahnhof Nord. Durch Eisenbahner wurde das
Ereignis bekannt. Schon am Morgen wußte es die ganze Stadt. Ein ungeheurer
Ansturm auf die Züge setzte ein. Aber nun war es zu spät. Als letzter kam
der Morgen-D-Zug nach Danzig über Güldenboden hinaus. Dann war Schluß, die
Russen besetzten die Strecke. Alle späteren Züge, die bis Braunsberg.
Heiligenbeil, Ludwigsort gekommen waren, kehrten am 24. und 25. Januar nach
Königsberg zurück. Was nun?

Am 25. Januar gelangten private Nachrichten von der Front diesseits Labiau,
das die Russen genommen hatten, nach Königsberg: Die Russen sind über die
Deime, wer sich in Sicherheit bringen will, soll sich beeilen ! Am Abend
dieses Tages saßen im Parkhotel noch die Stammgäste. Französische Kellner in
elegantem Frack und blütenweißer Hemdbrust servierten das immer noch gute
und reichliche Essen. Keiner von diesen Menschen hier ahnte, daß zwischen
ihnen und dem Russen keine zu ernsthaftem Widerstand fähige Truppe mehr
stand.

An diesem Abend hätten die Russen, die in der Dämmerung Neuhausen-Tiergarten
besetzt hatten, ungehindert in Königsberg einrücken können. Aber das ahnten
sie damals wohl ebenso wenig wie die Königsberger.

Hemmungslos fluteten Soldaten des Heeres und der Luftwaffe, die sich nicht
einmal die Zeit nahmen, die auf dem Flugplatz Neuhausen gestapelte Munition
zu sprengen, in die Stadt. Einzeln, in Haufen, auf mit Privatgepäck
überladenen Kraftwagen nur wenige schwache Kompanien in geordneten Kolonnen,
dazwischen Bauernwagen, Fußgänger, lose Pferde, Rinder, Schweine, alles
durcheinander. Die Masse der Menschen versickerte in die Keller von
Königsberg, um Ruhe und Schutz gegen die Kälte zu suchen.

Was sich in dieser Nacht nördlich des Pregels ereignete, setzte sich am
folgenden Tage auf dem Südufer fort. Durch den langen Straßenzug zwischen
Nordbahnhof und Hauptbahnhof fluteten in beiden Richtungen endlose
Kinderwagen, Greise und Halbwüchsige zogen Züge erregter Menschen. Frauen
schoben Rodelschlitten mit Pyramiden von Gepäck. Es war bitterkalt, aber die
Anstrengung trieb den Geängstigten Bäche von Schweiß über das Gesicht. Es
fuhren keine Züge mehr. Am Nachmittag brachten Wehrmachtkolonnen eine neue
Note in das chaotische Bild. Von Norden, Osten, Süden eilten sie durch die
Straßen, oft im Trab, und strebten in das westliche Samland. Dazwischen
klingelten die Straßenbahren, die immer noch verkehrten. Und als der Tag in
die Dämmerung sank, klang ein neuer Ton in das Konzert. Heulend zogen die
ersten Granaten der russischen Artillerie ihre Bahn über die Ruinenfelder
von Königsberg und barsten krachend in den Straßen, die im Norden in
Richtung Pillau, im Süden zur Berliner Chaussee führen.

Hier in der Vorstadt, im Nassen Garten, in Ponarth bekam der Strom der
Irrenden ein neues Ziel, das Frische Haff. Es begann der grausige Zug über
das Eis nach der Nehrung hin, für ungezählte Tausende die Wanderung in den
Tod.

Zehntausende stauten sich im Hafen, schutzlos auf den Kais der Kälte und dem
Beschuß durch russische Flieger ausgeliefert. Nur ein winziger Bruchteil
fand Platz auf den wenigen kleinen Schiffen, die von der hilfsbereiten
Marine eingesetzt werden konnten. Einige Tausend kamen noch fort auf
Kohlenschuten, die von Eisbrechern und Schleppdampfern durch den Seekanal
nach Pillau gezogen wurden. Wilde Kämpfe um die Schiffsplätze brachen aus.
Die Reisenden aber ahnten nicht, welchem neuen Elend sie entgegenfuhren.

Auch über die Straße nach Pillau hastete der Zug der Flüchtenden. Zu Fuß,
auf Fahrrädern, in Pferdewagen und Autos strebte er nach der Küste. Aber die
Straße wurde von der Wehrmacht für Kolonnen, Batterien, Sankras freigehalten.
Wohl gelang es einmal einem Auto, sich in die Marschsäule einzufädeln. Wohl
nahmen viele Militärfahrzeuge Mütter mit kleinen Kindern,
alte Leute, auch junge Mädchen mit. Aber im Allgemeinen waren die Wanderer
auf Feldwege neben der Straße angewiesen. Knietief lag der Schnee, tief,
weich und weiß wie ein Bett. Und vielen Alten, Schwachen, Kranken wurde er
zum Sterbebett. Viele versuchten nach Norden an die Bernsteinküste zu
entkommen. Sie fanden den Weg bereits versperrt. Am 26. und 27. Januar
hatten die Russen die Bäderbahnen überschritten. Auf der Nordfront von
Königsberg schob sich der Riegel nach Westen vor.

Am 26. Januar hatte das Generalkommando, das seit Ende August 1944 im Fort
Quednau gelegen hatte, dieses geräumt und in Moditten Quartier bezogen.
Viele Dienststellen der Wehrmacht hatten mit und ohne Befehl die Stadt
verlassen. Die Anweisungen, die von den Armeekommandos im Lande und von
Berlin kamen, waren widerspruchsvoll. Die Armee wollte die Bevölkerung
retten, Berlin war bereit, sie Phantomen zum Opfer zu bringen. Das war
auch die Meinung des Gauleiters Koch, der sich nach Pillau begeben hatte.

Am Sonntag, dem 28. Januar, saßen die Königsberger, die Pflichtgefühl oder
Angst vor dem Galgen, Krankheit, Scheu vor der Flucht in ein ungewisses
Schicksal, Hängen am Eigentum zurückgehalten hatten, in ihren Kellern.
Niemand gab ihnen einen Überblick über Entwicklung und Stand des Geschehens.
Es gab weder elektrischen Strom, noch Gas oder Wasser. Infolgedessen
erschienen die Zeitungen nicht mehr, schwieg der Rundfunk. Ab und zu warf
ein russischer Flieger Bomben ab oder schoß in die menschenleeren Straßen.
Mitunter dröhnte die Erde von kurzen Feuerschlägen der Artillerie. In den
Kellern wußte man nicht, ob es die eigene war oder die russische. Man
schlief, man erwachte, fragte die Nachbarn, die auch nichts wußten. Man
wartete voll Angst auf die Russen, aber sie kamen nicht.

Abends ging das Gerücht, daß vom Bahnhof Ratshof Züge nach Pillau fahren
würden. Wieder machten sich Tausende auf, drängten sich zusammen in
Viehwagen, die sich am 29. Januar in Bewegung setzten. Diese Züge wurden
zwischen Methgeten und Seerappen von den Russen eingeholt, die ein
entsetzliches Morden begannen.

Der Ring um Königsberg war geschlossen. Die Stadt war eine belagerte
Festung, in der nun alle Befehlsbefugnis auf den Kommandanten überging.
Noch einmal raffte sich die Wehrmacht zum Widerstand auf. Noch einmal,
schöpften die Königsberger Hoffnung. Noch einmal wurde für einige Wochen
der Ring nach Westen aufgebrochen. Aber das war nur ein Aufschub eines
unabwendbaren Schicksals. M. W.

Quelle: Ostpreußen-Warte, September 1952, Seite 3

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Zur Kenntnis gebracht durch Inge Barfels.
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