Streit um die Oder-Neiße-Grenze (1945-1972).

Zusammenhänge, die zur Errichtung dieser Grenzlinie geführt haben.

Streit um die Oder-Neiße-Grenze (1945-1972).

Beitragvon -sd- » 27.08.2018, 18:45

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Christian Lotz 'Die anspruchsvollen Karten. Polnische, ost- und
westdeutsche Auslandsrepräsentationen und der Streit um die
Oder-Neiße-Grenze
(1945-1972)'.


Magdeburg-Leipzig: Meine Verlag e.K. 2011.
ISBN 978-3-941305-27-4; 108 S.; EUR 15,90.

Rezensiert für H-Soz-u-Kult von:
Jörn Happel, Departement Geschichte, Universität Basel.

Was zeichnet anspruchsvolle Karten aus ? Die Beschreibung, der Inhalt,
der zeitliche oder geographische Kontext ? Die von Christian Lotz in
seinem kleinen Buch präsentierten Karten erhoben zu ihrer Zeit stets den
Anspruch, Geschichte und Gegenwart für ein anspruchsvolles Publikum
abzubilden. Sie demonstrieren heute die Auseinandersetzung um eine
jahrzehntelang umstrittene Grenze in Europa - die Grenze entlang der
Flüsse Oder und Neiße zwischen Deutschland und Polen. Nach dem Zweiten
Weltkrieg der eigenen Ostgebiete beraubt, wurde Polen nach Westen
verschoben und mit den ehemaligen deutschen Ostgebieten "entschädigt".
Über diese Grenzziehung wurde vor allem in der Bundesrepublik
gestritten, in politischen Diskussionen, in Zeitungen aber auch auf
Karten.

Christian Lotz hat zahlreiche Karten aus der alten Bundesrepublik, der
DDR und Polen in der Zeit nach dem Krieg bis zur "Neuen Ostpolitik"
der Regierung Brandt / Scheel zusammengestellt und demonstriert
eindrucksvoll, wie politische Ansprüche ins Bild gesetzt werden können.

Die liebevoll gestaltete Publikation hat zum einen den Anspruch, die
griffige These Johannes Paulmanns, die bundesdeutsche auswärtige
Kulturpolitik sei mit einer "Haltung der Zurückhaltung" aufgetreten, zu
relativieren. Zum anderen sollen Karten nicht national, sondern in einem
transnationalen Rahmen untersucht werden (S. 8). Beides gelingt
Christian Lotz. Die Werbekarten der BRD für Messen im Ausland sind alles
andere als zurückhaltend in ihren Grenzbeschreibungen, sondern betonen
die Gestalt Deutschlands in den Grenzen von 1937. Der transnationale
Vergleich von drei national-unterschiedlichen Kartographien ein und
derselben Grenze erlaubt zudem eine gelungene Kontrastierung -
Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den Darstellungsformen treten
hervor. Eine weitere Stärke von Christian Lotz' Ansatz ist die
Verbindung von Karten und Archivdokumenten, wodurch die Karten in ihrer
Zeit verortet und mit zahlreichen Aussagen kontextualisiert werden
können. Doch scheint es, die Karten könnten über das Gesagte hinaus noch
weitere Erkenntnisse liefern. Man hätte durch eine dichte Beschreibung
des Dargestellten (Symbole, Farben usw.) die Karten zunächst selbst
"sprechen" lassen können. Und was ist mit den Menschen und Institutionen
hinter den Karten ? [1] Beides bleibt leider blaß, dürfte aber die
Argumentation ab und an gestärkt haben. Hierbei hätte Christian Lotz
sein umfangreiches Wissen über die europäischen Karten ähnlich
ausspielen können, wie bei seiner gelungenen Interpretation von
Inselkarten. So wurde der DDR-Kartographie vorgeworfen, sich durch
Inselkarten von der BRD abgrenzen zu wollen. Von Lotz in einen
gesamteuropäischen Kontext gesetzt (S. 25-30), kann bilanziert werden,
daß sehr viele Staaten sich dieser Darstellungen bedienten und bedienen.
Somit wird generell ein genaueres Abwägen von politischen und
gestalterischen Faktoren benötigt, die auf das Kartenbild Einfluß nahmen.

Immer wieder dreht sich die dargestellte Geschichte um die Auslands-
repräsentationen, die Zusammenkünfte auf internationalen Touristik-
messen, bei denen allzu oft die polnischen Vertreter gegen die deutschen,
revanchistischen Karten anfangs erfolglos, ab den 1960er-Jahren mit mehr
Erfolg protestierten. Eine Episode zeigt vielleicht auch, wie marginal das
deutsch-polnische Problem im Ausland späterhin wahrgenommen worden
ist.

In Brüssel hatte 1965 die Aufschrift "Deutschland" auf einer bundes-
deutschen Karte in den Grenzen von 1937 die polnischen Diplomaten
erbost. Sie protestierten, doch der belgische Außenminister konnte nur
scherzen, es sei doch gut, habe die deutsche Seite hinter "Deutschland"
nicht auch noch "über alles" geschrieben (S. 56f.). Verstand man im
(westlichen) Ausland überhaupt die Sensibilität der Auseinandersetzung ?
Auch wenn Christian Lotz überzeugend zeigen kann, wie der Westen in
den 1960er-Jahren aufgrund der Entspannungspolitik diese Grenzthematik
nicht mehr thematisieren wollte, würde es schon interessieren, wie die
jeweilige Öffentlichkeit mit den angesprochenen Kartenrepräsentationen
umging, ob darüber in Brüssel oder an anderen Orten überhaupt berichtet
worden ist.

Während die bundesdeutsche Politik vor allem aufgrund der Lobbyarbeit
durch die Vertriebenenverbände darauf achtete, die Ostgebiete in den
Karten nicht vollkommen zu vergessen, hatten die Verantwortlichen in
Polen ganz andere Probleme. Sie mußten sich des neuen Raums im Westen
annehmen, fanden neue, polnische Namen für Dörfer, Städte, Landschaften
und wollten auf den Karten suggerieren, die Gebiete seien urpolnisch.
Dabei fanden sie einen Weg: Im kartographischen Polen waren nur
polnische Namen und Bezeichnungen zu finden, aber jenseits der Grenzen
wurden die Namen der Städte in den jeweiligen Landessprachen gedruckt
(S. 35). Was für die DDR und die Tschechoslowakei einfach erschien, war
im Osten politisch brisant: Wie sollte man die kyrillischen Buchstaben
umschreiben ? Oder sollte man etwa die Bezeichnung Lwów aufnehmen und
somit auf die polnische Vergangenheit der nun in der sowjetischen
Ukraine (L'viv / L'vov) liegenden Stadt hinweisen ? Oftmals entschieden
sich die Kartenmacher, die polnischen Namen in den ehemals polnischen
Ostgebieten zu verzeichnen. Sie taten somit genau das, was ihre Regierung
den deutschen Kartengestaltern vorwarf - eine paradoxe Geschichte. Und
im Gegensatz zur BRD findet sich in den Archiven auch kein Hinweis darauf,
daß die Polen mit den polnischen Namen auf Sowjetgebiet international
Anstoß erregten (S. 41).

Mit höchst interessanten Karten, die Christian Lotz in den Kontext seiner
Fragestellung stellt, lassen sich auch einige Ideen zum weitergehenden
Arbeiten formulieren. Auf den polnischen Karten suchte man vergebens
eine deutsche Ortsbezeichnung in den ehemaligen deutschen Gebieten.
Das änderte sich bei Karten, die auf die nationalsozialistische Terrorherrschaft
verwiesen. Unter den Namen der Konzentrationslager steht auf einer
polnischen Karte von 1965 auch die deutsche Ortsbezeichnung (etwa Groß-
Rosen, Stutthof oder Auschwitz-Birkenau; S. 59-62). Christian Lotz vermerkt
zwar diesen Bruch in der polnischen Karten-Politik, die deutsche Sprache
eigentlich vermeiden zu wollen, doch eine dichte Kartenbeschreibung hätte
erkannt, daß die Namen in gotischer Schrift verzeichnet sind: Es ist das alte
Deutschland, Nazi-Deutschland, das auf der Karte auf diese Art und Weise
eingezeichnet wurde - somit eine Zeit, die besiegt war. Ebenso fällt das
Todeslager-Symbol auf dieser Karte auf. Wohl ein Krematorium darstellend,
verweist das Symbol auf die Orte des Mordens an Juden und Polen während
des Kriegs. Wie wurde dieses Symbol gefunden und von wem ? Auch bei
anderen Karten überrascht, daß Christian Lotz nicht auf die einzelnen
Symbole eingeht oder die Farben interpretiert, mit denen bestimmte Aus-
sagen getroffen wurden (Länderfarben, Landschaftsfarben). Vielleicht wurde
manchmal zu sehr dem aus Archivdokumenten entwickelten Kontext geglaubt
und dadurch den Karten lediglich illustrative Funktionen zugeschrieben.
Es hätte sich angeboten, hier und da den Spieß herumzudrehen.

Christian Lotz verweist in seiner Studie auf die "mental maps" bei Zeichnern
und Betrachtern der Karte. Seine Analyse der Raumvorstellungen überzeugt
in jedem Kapitel. Man kann mit Lotz die Oder-Neiße-Grenze abwandern -
in den politischen Diskussionen um ihre kartographische Darstellung. Dafür
ist ihm ebenso zu danken wie für sein umfangreich kommentiertes Literatur-
kapitel und für die Zusammenfassungen in polnischer und englischer Sprache.

Anmerkung:
[1] Vgl. unter anderem die Beiträge von Annina Cavelti, Antje Kempe und
Tobias Weger in: Jörn Happel / Christophe von Werdt (Hrsg.), Osteuropa
kartiert - Mapping Eastern Europe. Unter Mitarbeit von Mira Jovanovic,
Berlin u.a. 2010.

Diese Rezension wurde redaktionell betreut von:
Frank Hadler <hadler@rz.uni-leipzig.de>

URL zur Zitation dieses Beitrages
http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de ... 2012-4-047

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