Hans Mortensen 'Die Litauische Wanderung'. 1928.

Hans Mortensen 'Die Litauische Wanderung'. 1928.

Beitragvon -sd- » 17.10.2021, 09:06

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Hans Mortensen: Die litauische Wanderung.

Vorgelegt durch Ed. Hermann am 13. Januar 1928.

Eine wichtige Feststellung ostpreußisch-baltischer Siedlungskunde ist das Ergebnis,
daß ein Teil der baltischen Völker, ins­besondere auch die Litauer, ihre heutigen Wohn-
sitze erst in er­staunlich junger Zeit eingenommen haben. Diese Erkenntnis ist ganz jungen
Datums. Bis 1920 war der Standpunkt der Forschung der, daß die baltischen Völker, und
zwar ausdrücklich auch die Litauer, seit uralten Zeiten in ihren heutigen Wohnsitzen leben.
Als uralte Westgrenze der Litauer gegen die westlich angren­zenden Preußen galt eine Linie,
die von Labiau nach Südosten an Wehlau vorbei ungefähr auf Rastenburg zu verläuft. Die
dies­bezüglichen, schon seit 1882 veröffentlichten Ergebnisse Bezzenbergers schienen
abschließenden Charakter zu besitzen und sind bis vor kurzem nicht angegriffen worden.

Erst die exakte historische Forschung hat hier einen Wandel der Anschauungen bewirkt.
In einer im Frühjahr 1919 bei Professor Brackmann (damals Königsberg) begonnenen
Dissertation konnte nachgewiesen werden, daß die Schalauer und Sudauer, die östlich der
Bezzenbergerschen Linie saßen, nicht litauischer Nationalität waren, sondern als Stämme
der Preußen zu betrachten sind. Nach dem Verschwinden dieser Völker breitete sich in
ihrem Wohn­raum die Wildnis aus, die erst später, ungefähr von der Mitte des 15. Jahr-
hunderts ab von Osten her durch die Litauer besiedelt wurde. Mit dem Beweise jugend-
licher litauischer Einwanderung nach Ostpreußen war die Urheimatstheorie der Litauer
für den litauisch besiedelt gewesenen Teil Ostpreußens widerlegt und hatte im ganzen
einen empfindlichen Stoß erhalten. Schnell folgten die neuen, durch die irrtümliche
Hypothese Bezzenbergers nicht mehr belasteten Erkenntnisse. Durch sprachliche Unter-
suchungen konnte Gerullis (1921) für die Sudauer, Trautmann (1924) für die Schalauer
das historische Ergebnis bezüglich der preußischen Natio­nalität bestätigen. Buga zog
(1922) auf sprachlichem Wege den Schluß, daß nicht nur die Litauer nach Ostpreußen,
sondern über­haupt die Letten (im weiteren Sinne) und Litauer in ihre heutigen Wohn-
sitze erst in ganz junger Zeit vom (6. Jahrhundert ab) ein­gewandert seien. Er hatte
schon früher (1913) das Ergebnis der Arbeiten von Kocubinskij, Pogodin und Karskij be-
stätigt, daß in früherer Zeit das baltische Wohngebiet wesentlich weiter nach Osten ge-
reicht habe, hatte jedoch, offenbar unter dem Einflusse der Anschauungen Bezzenbergers,
noch nicht die richtigen Folge­rungen daraus gezogen. Karge betrachtete 1925 die Verhält-
nisse unter dem Gesichtswinkel deutscher Kolonisation. Vasmer stellte (1926) die neuesten
Ansichten in den Rahmen seiner Anschauungen über die Urheimat der Slaven, und ich
selbst konnte in einer Landes­kunde von Litauen die Verhältnisse im Norden Litauens in
ähn­licher Weise klar legen, wie es Gertrud Mortensen für den Westen getan hatte.

Überraschend schnell hat sich somit die Erkenntnis Bahn ge­brochen, daß die Balten keines-
wegs durchweg im Schutze un­durchdringlicher Wälder oder aber des Baltischen Höhen-
rückens von den Stürmen der Völkerwanderung unberührt geblieben wären, sondern daß
sie, wie wir heute mit Sicherheit sagen können, selbst an der Völkerwanderung teilge-
nommen haben, d. h. zum Teil erst durch eine sehr jugendliche (vgl. u.) Wanderung in
ihre heutigen Wohnsitze gekommen sind. Es scheint mir, als ob die Forschung im Augen-
blick an einem Punkt angekommen ist, wo ein Über­blick über die bisherigen Ergebnisse
und ein Ausblick auf die noch zu lösenden Probleme lohnend ist.

Wie sind nun, über­sichtlich und unter zusammenfassendem Gesichtspunkte betrachtet,
die Verhältnisse im Einzelnen ?

Für den Zustand um 500 n. Chr. gibt uns die von Buga entworfene, 1924 mit einem
deutschen Begleittext (a. a. 0.) erschie­nene Karte Auskunft. Wenn auch die Einzelheiten
der Karte noch recht hypothetisch sind und der Korrektur bedürfen, so ist doch gesichert
der gegenüber dem heutigen Wohngebiet zentrale Wohnraum baltischer Völker ein-
schließlich der Litauer in der Gegend von Smolenak-Minsk und westlich davon. Ob die
weitgehende Aufspaltung in einzelne Völker bereits für die Zeit um 500 n. Chr. zutrifft,
wie es Buga zeichnet, scheint aller­dings fraglich. Die Darstellung Vasmers, der für die
Zeit 400 n. Chr. in der Gegend von Minsk-Smolensk einfach "Balten" angibt (a. a. 0.),
dürfte auch für die Zeit um 500 n. Chr. das Richtige treffen. Wenn man die (östlichen)
Galinder der Vasmerschen Karte noch hinzu­nimmt, so hat das baltische Siedlungsgebiet
um 500 sogar bis in die Gegend von Moskau gereicht. Östlich der Weichsel bis zur
Memel dürften schon damals die Preußen gesessen haben, die sich parallel mit dem
Abziehen der Germanen bis zur Weichsel ausdehnen konnten.

Über die damalige Bevölkerung der heutigen baltischen Wohn­sitze in der weiteren Um-
gebung des Rigaischen Meerbusens wissen wir nichts Genaues. Buga zeichnet dort
finnische Völker: Vasmer (a. a. 0.) und auch Gerullis halten diese Ansicht eben­falls für
wahrscheinlich.

Der erste sichere Zustand nach dieser ungefähr in den Beginn des 6. Jahrhunderts zu
legenden Völkerverteilung ist eigentlich erst das Jahr 1400. Das erscheint vielleicht,
gemessen an den west- und süddeutschen Verhältnissen, sehr spät. Wir dürfen je­doch
nicht vergessen, daß wir uns, sieht man von den vereinzelten und ganz zufälligen An-
gaben landfremder Chronisten ab, noch zu Beginn des 13. Jahrhunderts im Baltikum
voll in der Prähistorie befinden.

Um 1400 verläuft die Westgrenze des litauischen Siedelungslandes von südlich Grodno
auf das Memelknie bei Grodno zu, von Grodno aus die Memel abwärts über Kowno bis
zur Dubissa-Mündung, die Dubissa aufwärts bis ungefähr in die Gegend von Butkischke,
von dort, die Dubissa verlassend, in nordwestlicher Richtung, am Südrand Hochzemaitens
entlang, bis in die Gegend von Kvedarna. Von dort verläuft sie im Bogen über Twer nach
Medingenai, wo sie nach Osten umbiegt und zur Windan geht. Dieser Verlauf der West-
grenze wird durch die Verteilung der mittelalterlieben Kirchengründungen in Litauen und
durch die Anordnung der von Kriegszügen heimgesuchten Ge­biete bestätigt. Die Nord-
grenze verläuft von Medingenai über Lukniki (Luoke), umfaßt im Bogen das Siedelungs-
gebiet von Schaulen, hat dann eine weite, fast kreisförmige Einbuchtung nach Süden
bis in die Gegend von Betygala, von dort nach Osten und westlich der Nevezys nach
Norden bis hart nordwestlich Poniewiez (Panevezys). Östlich Panevczys haben wir
wieder eine starke Ausbuchtung bis südlich Seta, von wo die Grenze nach Nordosten
und schließlich über ungefähr Utena nach Osten bis nördlich Svenzionys vorläuft. Außer-
halb des litauischen Siedelungsland befand sich um 1400 längs der gesamten Grenze
ein mehr oder minder ausgedehntes Wildnisgebiet.

Sehen wir uns nun die Anordnung des litauischen Siedelungslandes und der Wildnis vom
geographischen Gesichtspunkt aus an, so erkennen wir verschiedenes Interessante. Das
litaui­sche Siedelungsland ist im ganzen, das ist wohl das Hervor­stechendste, ein diluvi-
ales Hügelland, zum größten Teile Endmoränen- oder kuppige Grundmoränenlandschaft.
Es weist in­folgedessen durchschnittlich verhältnismäßig leichten Boden auf und ist in
jedem Fall ausgezeichnet entwässerbar. Die Bearbeitung des Bodens ist mit den einfach-
sten Mitteln möglich; das Gebiet als Ganzes ist für den damaligen Kulturstand der Bewohner
ein ausgezeichnetes Siedlungsgebiet gewesen.

Zwar ist das ganze, an das litauische Siedelungsland im Westen und Norden angrenzende
Gebiet überwiegend eben, ziem­lich feucht und daher weniger siedelungsfreundlich; doch
haben wir an manchen Stellen keinen Unterschied zwischen den Gebieten außerhalb und
innerhalb der Grenze. Wenn wir ehrlich sein wollen, können wir mit der Geeignetheit für
die Bewirtschaftung als Er­klärung für die Gesamtausdehnung des litauischen Siedelungs-
raumes von 1400 nicht so sehr viel anfangen, wie ich früher dachte, als ich die Verhält-
nisse im Norden noch nicht kannte.

Dafür haben wir den Gegensatz der Besiedelung hügeligen und leicht entwässerbaren
Bodens zu schlecht entwässerbarem Boden innerhalb des litauischen Siedelungsraumes
als Gegen­satz zwischen Wald und Siedelungsland außerordentlich scharf ausgeprägt.
Ein merklicher Teil der innerlitauischen Siedelungsinseln schließen sich eng an die
diluvialen Höhenzüge an, seien es Endmoränen oder Osar, oder auch andere Hügel-
gruppen.

Neben diesem Zusammenhang zwischen Siedelungsflächen und Höhenzügen ist noch
ein anderer Zusammenhang zwischen den inner­litauischen Siedelungsflächen um 1400
und den natürlichen Ver­hältnissen außerordentlich auffallend. Man findet nämlich, daß
ein ebenso erheblicher Teil der Siedelungsinseln, und zwar ziem­lich alle Flächen, die
sich der bereits erwähnten Gesetzmäßigkeit nicht fügen, sich außerordentlich eng an
die Flußlinien an­schließen. Der Zusammenhang ist z. T. recht einfach darin be­gründet,
daß die Nähe fließenden Wassers jedem Siedler Vorteile bot. Es ergibt sich aber noch
als sehr wahrscheinlich, daß wir in dieser Siedelung längs der Flüsse eine Auswirkung
der litauischen Einwanderung vor uns haben.

Jedes Volk hält sich in einem Urwaldgebiet, und als solches dürfen wir das Gebiet vor
der letzten kontinuierlichen Besiedelung wohl betrachten, eng an die Flüsse und Bäche.
Sie ermöglichen ihm den Eingang, das weitere Vordringen und auch allein die Orien-
tierung. Wir finden das in den meisten Urwaldgebieten noch heute. Eine Besiedelung
in den heutigen Urwaldgebieten geht entweder von der Quelle aus flußabwärts oder
aber von der Mündung aus flußaufwärts, auf jeden Fall kaum quer zum Verlauf der
Flüsse.

Aus der Tatsache der Einwanderung längs der Flüsse läßt sich auch der Charakter
der Namengebung der litauischen Flüsse erklären. Edward Schröder bezeichnet es
dort, wo die Flüsse nicht Leitlinien des Verkehrs oder der Siedelung sind, als die
Regel, daß ein Fluß längs seines Laufes den Namen wechsele, weil den Anwohnern
des einen Flußabschnittes der an anderer Stelle übliche Name nicht bekannt sei. In
Litauen führen m. W. alle Flüsse längs ihres Laufes den gleichen Namen, eben weil
sie die Leitlinien der Besiedlung sind. Die Bevölkerung, die dort den Namen am Unter-
laufe gab, war selbst vom Oberlaufe gekommen (oder aber umgekehrt); sie konnte
über den Zusammenhang der einzelnen Flußstücke desselben Flusses nicht im Zweifel
sein. Jetzt, nachdem wir den Schluß auf Einwanderung längs der Flüsse gemacht
haben, können wir auch den eigentlichen Zu­sammenhang der Grenze des litauischen
Siedelungsraumes von 1400 mit den natürlichen Verhältnissen erkennen und begrün-
den. Wir sehen nämlich, daß die Grenze sich überall in her­vorragender Weise mit
der Wasserscheide des Ein­zugsgebiets der mittleren Memel deckt, sie zum min­desten
an keiner Stelle merklich überschreitet. Die Überein­stimmung ist auch dort vorhanden,
wo die Wasserscheide aus mor­phologischen Gründen auffallende Ausbuchtungen be-
sitzt. Nur an einigen Stellen füllen die Litauer um 1400 das Memeleinzugsgebiet nicht
völlig aus (vgl. unten). Auch dort, wo die Siedelungsgrenze längs der Memel verläuft,
können wir, ohne uns mit den historischen Feststellungen in Widerspruch zu setzen,
die Überein­stimmung mit der Wasserscheide als wahrscheinlich annehmen, denn
gerade dort befindet sich die Wasserscheide der zur mitt­leren Memel und der von
dort weg zur unteren Mernel fließenden Gewässer in unmittelbarer Nähe der Memel.

Der Zusammenhang des litauischen Siedelungsgebietes mit dem Memeleinzugsgebiet
ist nicht so mystisch, wie es auf den ersten Anblick erscheinen könnte. Wer in Urwald-
gebieten gereist ist, weiß, daß es tatsächlich einen gewissen Entschluß bedeutet, den
Leitfluß, dem man gefolgt ist, an seiner Quelle zu verlassen; denn mit dem Augenblick
wird die Orientierung unsicher, man kommt in ein Gebiet, das man nicht kennt und
aus dem man sich nicht mit Sicherheit an seinen Ausgangspunkt zurückfinden kann.
Wenn man nun noch beachtet, daß in sehr vielen Fällen die Wasser­scheiden besonders
schlecht entwässert und damit siedelungsfeindlich sind, so wird man sich über die enge
Anlehnung der alten litauischen Siedelungsgrenze an die Wasserscheide nicht mehr
wun­dern. Da Wasserscheiden auch in Altpreußen Siedelungsgrenzen gewesen sind,
scheint es sich dabei um eine Gesetzmäßigkeit aller­erster Ordnung zu handeln. Wir
dürfen es als ein allgemeines Gesetz im baltischen Gebiet hinstellen, daß die Flüsse
die Leitlinien der Besiedelung, die Einzugsgebiete Wohn­gebiete einheitlicher Völker
und die Wasserscheiden Grenzen des Volksraumes waren. Womit natürlich nicht gesagt
ist, daß in einem zu großen Einzugsgebiet nicht mehrere Völker gewohnt haben können,
jedoch dann in der Weise, daß die Völker sich längs des jeweiligen Hauptflusses hinter-
einander anordneten.

Mit dieser Kenntnis versehen können wir jetzt an die Betrach­tung der
Verhältnisse in der Zeit vor 1400 gehen. Wir müssen dazu erst einmal
feststellen, daß die litauische Siedelungsgrenze von 1400 kaum uralt gewesen ist
(vgl. jedoch unten Anm. 1), da wir ja eingangs gesehen hatten, daß die Litauer
wahrscheinlich 900 Jahre früher an ganz anderer Stelle, nämlich im Quellgebiet
des Dnjepr und der anderen nach Süden gehenden Flüsse, gesessen haben.
Andererseits dürfen wir jedoch auch nicht sagen, daß die 1400-Grenze überhaupt
nur ein zufällig erfaßter Augenblickszustand ist. Zwar zeichnet Buga auf seiner
Karte von 1200 (1924 a. a. O.) die Grenze des litauischen Volkes etwas anders,
und zwar im Westen weniger weit im Sinne des litauischen Vordringens, als wir
für 1400 erkannt haben. Doch gibt er dafür keine Be­weise, und aus den Urkunden
usw. läßt sich auch keinerlei Beweis dafür finden. Der einzige erkennbare Beweis
scheint mir der Name Zemaiten für eine später im Hochlande befindliche
Bevölkerung zu sein, und diesen Beweis habe ich bereits an anderer Stelle
ent­kräftet (Litauen S. 83 f.). Eher deuten die Quellen aus der Zeit vor 1400
immer wieder darauf hin, daß eine Verschiebung des litauischen Wohnraumes
zwischen 1200 und 1400 nicht stattge­funden hat. Die Tatsache, daß die Grenze
von 1400 so ausge­zeichnet natürlich bedingt ist und einen natürlichen Wohnraum
umschließt, läßt es ebenfalls wahrscheinlich erscheinen, daß die Grenze um 1400
bereits seit längerer Zeit konstant war. überdies ist es sehr bemerkenswert, daß
wir noch am heutigen litauischen Siedelungsbilde gerade das vor 1400 und das
kurz nach 1400 be­siedelte Gebiet sehr deutlieh unterscheiden können. Das wäre,
da nach 1400 die Grenze bald überschritten wurde (vgl. unten S. 191 ff.), kaum
der Fall, wenn die 1400 - G r e n z e nicht vor 1400 gegen­über allen anderen Z
w i s e h e n s t a d i e n besonders lange bestanden hätte.

Außerhalb des litauischen Siedelungslandes interessiert uns in erster Linie das
Gebiet im Westen, das einen erheblichen Teil des heutigen Ostpreußen in sich
begreift. V o n d e r W e i c h s e 1 im Westen bis zur Alle und Deime im
Osten erstreckte sich, nach dem Abzüge der Germanen aus den westlichsten Teilen,
dichtes preußisches Siedlungsgebiet. In dem Gebiet öst­lich davon saßen vor der
Ankunft des Deutschen Ordens die eben­falls preußischen Nadrauer, Schalauer und
Sudauer. und zwar die Sudauer westlich der mittleren Memel, nach Ostpreußen in
das heutige Masuren hineinreichend, die Schalauer beider­seits der unteren Memel
und die Nadrauer am oberen 1P r e g e 1 und dicht öst1ich der Deime und A11 e.
Jm ganzen ist die Besiedlung des gesamten östlichen Ostpreußen bereits vor der
Mitte des I3. Jahrhunderts, also vor dem Eingreifen des Ordens, sehr lückenhaft,
und weite Gebiete dürften Wildnischarakter be­sessen haben. Für die Schalauer
und die Nadrauer ist es über­haupt fraglich, ob sie jemals ein ausgedehnteres
Wohngebiet be­saßen. Von den Sudauern wissen wir, daß sie mehrere Jahrhun­derte
vor dem Eingreifen der Ritter ein recht mächtiges Volk ge­wesen sein müssen. Der
nadrauische Wohnraum bleibt die ganze Ordenszeit hindurch der gleiche; er ist
als östlichster Teil des geschlossenen preußischen Siedelungslandes zu
betrachten. Die Schalauer scheinen noch während der Ordenszeit an
Siedelungs­fläche zu verlieren. Gegen Ende des 14. Jahrhunderts werden Schalauer
nur noch als Bevölkerung von Vorburgen an der Memel erwähnt; eine eigentliche
schalauische Siedelungsfläche ist kaum mehr vorhanden. Die Sudauer verschwinden
binnen kurzem völlig, und um 1300 dehnt sich auch auf ihrem Gebiete die
siedlungsleere Wildnis aus. Die Karsovier westlich der unteren Du-bissa sind ein
sehr problematisches Volk. Vermutlich waren sie keine Litauer. Sie sind ziemlich
sofort nach ihrem ersten Auf­treten in der Geschichte aus unserm Gesichtskreis
verschwunden, und ihr Gebiet wird Wildnis.

Sehen wir uns die Verhältnisse weiter im Norden an. Dort haben wir in der Zeit
vor 1400 die geheimnisvollen Landschaften Pilsaten, Megowe, Duvzare und Ceclis.
Sie sind von livischen bezw. finnischen2) oder aber baltischen3) Kuren bewohnt
gewesen. Endzelin unterstellt offensichtlich eine kontinuierliche Besiedlung
dieser Landschaften. Dieses letztere trifft allerdings nicht zu,
sodaß wir über die Nationalität der alten Bevölkerung hier vor­läufig nichts
Genaues sagen können. Die vier Landschaften sind auf jeden Fall nach Ausweis der
prähistorischen Funde noch um das .Jahr 1000 besiedelt gewesen. Aus den Urkunden
ergibt sich jedoch mit großer Deutlichkeit, daß sie in der Mitte des 13.
Jahr­hunderts unbesiedelt gewesen sind. Die letzte Phase der Entsiedlung wird
uns in der Livländischcn Reiinchronik berichtet. Die Landschaften bleiben bis
mindestens 1392 Wildnis. Soweit wir in dieser Zeit von Kuren hier erfahren,
handelt es sich um eine wahrscheinlich nicht seßhafte, ausgesprochene
Kustenbevölkerung"). Da Ceclis den litauischen Wohnraum nicht nur im Westen,
sondern auch ein Stück im Norden umschließt, so grenzt auch hier im westlichen
Norden das litauische Siedlungsland um 1400 an eine Wildnis.

Für den mittleren Norden (Gegend nördlich Schaulen) sind wir nicht so genau
orientiert wie tür die vorhergehenden, im we­sentlichen nach den Ergebnissen von
Gertrud Mortensen (a. a. O.) dargestellten Gebiete. Zwar können wir gerade dort
die litauische Nordgrenze besonders genau angeben, doch wissen wir nicht ganz
sicher, wie das Land nördlich davon im Wandel der Zeit ausge­sehen hat. Eine
lettische Bevölkerung, und zwar Semgalen, dürfte dort stellenweise, z. B. in der
Gegend von Ligumai, gesessen haben. Eine merkliche Lückenhaftigkeit der
Besiedlung ist je­doch auch dort wahrscheinlich, wie man bei genauerer
Durchsicht der dies Gebiet betreffenden Angaben Bielensteins (a. a. O.) erkennt.
Der Wildnischarakler der auffallenden Ausbuchtung südöstlich von Schaulen (vgl.
Kartenskizze) wird durch einen Wegebericht bestätigt.

Wesentlich gesicherter sind die Verhältnisse wieder im Nord­osten. Dort haben zu
einer Zeit vor 1400 Selen gesessen, wie der selische Charakter einer Anzahl
dortiger, in den Mindoweschen Schenkungen4) erwähnter und zum Teile heute
noch bestehender Ortsnamen erweist. Aus den Mindoweschen Schenkungen ist nicht
nur das Selenland in seinem ungefähren Umfange zu erkennen, sondern wir können
die Südgrenze mit völliger Sicherheit ablesen.

Im östlichen Teil, südwestlich Dünaburg. decken sich die süd­lichsten der
angegebenen Örtlichkeiten genau mit der Nordgrenze des litauischen Gebietes! Um
1400, genauer um 1411, haben wir nach der ganz eindeutigen Beschreibung Gilberts
de Lannoy dort völlig siedelungsleere Wildnis.

Dieser Teil des ehemaligen Selengebietes gehört noch zum Memeleinzugsgebiet.
Dort konnten jedoch die Litauer erst ein­rücken, nachdem die Selen verschwunden
waren. Daß die Litauer das nicht sofort taten, sondern dieses Gebiet erst zur
Wildnis werden ließen, ist ein weiteres Anzeichen dafür, daß die 1400-Grenze der
Litauer schon längere Zeit bestanden und eine erheb­liche Konstanz erreicht
hatte.

Zwischen dem östlichen Selenlande und dem Gebiet westlich der Nevezyis wird die
selische Südgrenze, wie sie aus der Min­doweschen Schenkung von 1259 erkennbar
ist. durch eine aus spä­terer Zeit (wahrscheinlich 1392) stammende Notiz über
die Grenze des Selenlandes3), abgesehen von ganz kleinen Differenzen,
bestä­tigt. Sie folgt auch hier ziemlich genau der litauischen Nord­grenze. Nur
eine Einbuchtung des litauischen Siedelungslandes wird abgeschnitten; dort ist
die litauische Nordgrenze auf andere Wreise bestätigt. Zur Grenzfestlegung
werden hier in den Quellen nur Flußnamen benutzt, und es ist besonders reizvoll
zu erkennen, daß es sich von der Sventa bis zur Musza im Westen stets um auf der
Wasserscheide zum Memeleinzugsgebiet entspringende Q,uellflüsse des nach Norden
entwässernden Lawena-Musza-Systems handelt. Auch dort ist das der Kali, wo die
Wasserscheide weit nach Süden in das Nevezys-Becken (Memeleinzugsgebiet)
eingreift. Wir haben hier das Spiegelbild zu den Verhältnissen an der Szoja.

Für diesen westlichen Teil des Selenlandes haben wir allerdings keine
ausdrückliche Bestätigung, daß das Gebiet längs des litaui­schen
Siedelungslandes um 1400 Wildnis ist. Wir können es hier eigentlich nur aus dem
Fehlen alter Kirchengründungen erschließen. Immerhin halte ich es. da auch sonst
keinerlei Angaben über Sie­delungen in dieser (im Interessengebiete des Ordens
liegenden) Gegend bekannt sind, für sehr wahrscheinlich, daß der für den Ostteil
des Selenlandes erwiesene Wildnischarakter um 1400 auch für den Westteil
zutrifft.

Wann hier der Vorgang der Wildniswerdung eingetreten ist, ist nicht bekannt.
Zwar hat es im 13. Jahrhundert noch Selen gegeben1); doch scheint es, als ob
diese sich mehr im nördlichen Teile, in unmittelbarer Nähe der Düna gehalten
haben. Zwei Ur­kunden vom Jahre 12982) erwähnen den bischöflichen Anteil der
Landschaften Semigallia, Nalexe und Therakoe-Gerze (nach den Lokalisierungen
Bielensteins offenbar Gebiete der Semgallen und Selen) als "desolatae penitus
annis pluribus et destruetae" infolge der übermäßigen Einfälle der Heiden (also
der Litauer). Es ist das zwar allein für sich genommen kein ausreichender
Beweis, daß der bischöfliche Anteil dieser Landschaften wirklich völlig
entvölkert war; immerhin ist dies nach Analogie anderer Landschaften, die in den
Quellen in ähnlicher Weise charakterisiert sind, recht wahr­scheinlich3). Wir
würden dann den Beginn der Wildniswerdung des Selenlandes mindestens in das 13.
Jahrhundert hinauf'rücken können.

Fassen wir noch einmal zusammen, so haben wir das Bild, daß v or 1400 eine
Anzahl von Völkern an das litauische Siedelungsgebict stoßen. Alle diese Völker,
mit Ausnahme des Teiles der Selen, der gerade noch den Rand innehat, sitzen
außerhalb des Einzugsgebiets der Memel. Alle diese Völker sind in dem
Augen­blicke, wo sie in das Licht der Geschichte treten, nicht sehr volk­reich.
Zum größten Teile haben sie schon vor der Ordenszeit einen erheblichen
Bevölkerungsrückgang erlitten. Sie vermehren sich nicht mehr, sondern
verschwinden mit wenigen Ausnahmen völlig. Auf ihrem Gebiete dehnt
sich, soweit sie nicht schon vorher bestanden hat, mit Ausnahme ganz
geringer Siedelungsflächen in Semgallen, die siedelungsleere Wildnis aus, die um
1400 den litauischen Siedelungsräum im Norden und Westen so gut wie lückenlos
umgibt.

Jetzt, wo wir wissen, daß vor dem Beginn der historischen Zeit andere Völker den
Litauern dicht benachbart waren, haben wir im übrigen einen weiteren, und zwar
den unmittelbaren Grund dafür, weshalb die Litauer die Wasserscheide nicht
über­schritten haben, nämlich den, daß dort zu der Zeit, als die Litauer bis zur
Wasserscheide vordrangen, jenseits derselben bereits andere Völker gesessen
haben. Der Zusammenhang zwischen Fluß-Einzugs­gebieten und Wohnräumen bleibt
natürlich bestehen, denn es ist in gleichem Maße bemerkenswert, daß eben diese
den Litauern benachbarten Völker uns genau in dem Augenblicke zu Gesicht kommen,
wo sie sich gerade außerhalb der Wasserscheide des den Litauern gewissermaßen
zukommenden Einzugsgebietes der mitt­leren Memel befinden.

Daß die das litauische Wohngebiet im Westen und Norden umgebenden Völker im
ganzen nicht sehr volkreich waren, ist nicht verwunderlich, da es, wenn auch
nicht überall, mit der ein­gangs dargestellten Ungunst ihres Gebiets zusammen-
hängen mag. Viel geheimnisvoller ist das Aussterben dieser Völker vor 1400, das
in vollem Gegensatz steht zu der Expansionskraft, die die Litauer besitzen und
nach 1400 zeigen (s. unten). Man findet, zum Teil im Anschluß an chronikalische
Mitteilungen, in der Lite­ratur die Meinung, daß die Nadrauer, Schalauer und
Sudauer im wesentlichen in den Kämpfen mit dem Orden zugrunde gegangen
seien. Wir haben oben schon gesehen, daß das nicht zutrifft, überdies ist es auf
jeden Fall bemerkenswert, daß das Aussterben oder Stagnieren fast alle nicht
litauischen Völker betroffen hat, auch diejenigen Preußen, die seit dem Ende des
13. Jahrhunderts befriedet waren. Denn auch für diese ist es nach den Verhält­nis-
sen im Samlande wahrscheinlich, daß sie von 1400 an einen geradezu katastro-
phalen Bevölkerungsrückgang erleben. Nach alledem kann ich mich, in Überein-
stimmung mit Gertrud Mortensen, deren diesbezügliche Ansichten ich selbst
ursprünglich ablehnte; nicht mehr zu der Meinung stellen, daß der Orden durch
seine kriegerischen Maßnahmen die Völkervernichtung bewirkt habe. Daß er mit
dazu beigetragen hat, soll allerdings nicht bestritten werden.

Nicht zutreffend erscheint auch die bis vor kurzem wohl all­gemein anerkannte,
noch weitergehende Ansicht, daß der Orden die Wildnis im östlichen Ostpreußen
geradezu "gewollt", sie also aus strategischen Gründen planmäßig geschaffen
hatte. Abgesehen von dem bereits Vorgebrachten, scheint mir der stärkste Gegen­-
beweis gegen die Annahme einer strategischen Absicht die Stra­tegie selbst zu
sein. Der Deutsche Orden hatte die ganze Zeit bis zur Schlacht bei Tannenberg,
also bis 1410, offensive Absichten gegen Litauen, zum mindesten gegen Zemaiten,
während die Li­tauer sich, obwohl sie gelegentlich zu Gegenstößen ansetzten, in
der Defensive befanden. Wer mußte nun aber den größeren Vor­teil von einer so
breiten (durchschnittlich 150 km !) völlig siedelungsleeren Wildnis haben ! Tat-
sächlich geht aus allen diesbezüg­lichen Nachrichten hervor, wie sehr der Orden
in jeder Weise bei allen seinen Unternehmungen gegen Litauen mit den Schwie-
rig­keiten zu kämpfen hatte, die durch den Wildnischarakter des Grenzgebiets
bedingt waren. Es wäre bei der weitschauenden Politik des Ordens ein übergroßer
Fehler gewesen, wenn er eine Maßnahme ergriffen hätte, die ihm zwar einen
gewissen, dem Gegner jedoch einen viel größeren Vorteil brachte. Die An­sicht,
daß der Orden die Wildnis gewollt habe, ist kaum mehr haltbar. Es handelt sich
bei der Wildniswerdung auch im ost­preußischen Gebiete um einen großartigen
Vorgang, dem gegen­über der Orden machtlos war, den er weder bewirken noch
ver­hindern konnte.

Nach 1400 setzt nun ein Vorgang ein, der, für sich ge­nommen, ebenso eigenartig
ist wie der Vorgang der Wildniswerdung außerhalb der litauischen Volksgrenze.
Der litauische Raum, wie er 1400 im Westen und Norden abgegrenzt war, ver-
mag die in ihm wohnenden Litauer nicht mehr zu fassen, und von ungefähr
1450 an beginnt eine erstaunliche litauische Expansion nach Westen und Norden.

Am besten bekannt sind die Verhältnisse auch hierbei wieder im Westen, dessen
Besiedlung auf ostpreußischem Boden von Gertrud Mortensen bis zum Jahre 1618
in einer seit 1920 dem Er­gebnis nach fertigen, allerdings noch nicht veröffent-
lichten Unter­suchung klar gelegt worden ist. Von den preußischen Herzögen ge-
duldet dringen dort die Litauer schier unaufhaltsam vor und besiedeln in allmäh-
lichem Vorschreiten das gesamte Wildnisgebiet. Mehrere Haupteinwanderungs-
wege kann man aus der Verteilung der litauischen Siedelungen, wie sie, für 1540
mit völliger Genauig­keit erfaßbar ist, erkennen. Einmal eine teils litauische,
teils ku­rische Besiedelung ganz im Norden des Memellands, die offenbar wesent-
lich von Norden und Nordosten gekommen ist längs der großen, von Norden
kommenden Flüsse, insbesondere längs der Dange und der Minge und auch
längs der Küste. Eine weitere Gruppe siedelte sich längs des Wilkischker Höhen-
zugs und der Jura an, die als Leitfluß für die Einwanderung gedient haben
dürfte. Die Memel zog natürlich ebenfalls die Einwanderung an sich, aber bemer-
kenswerterweise nicht etwa in einem ihrer Größe entsprechenden besonderen
Maße. Sie war für den bäuerlichen Siedler nichts anderes als jeder andere Fluß,
z. B. die Szeszuppe, längs dessen er vorging. Ein weiterer, nicht ganz so konzen-
trierter Siedelungskern befindet sich westlich und südöstlich des Wystiter Sees.
Auch dort sind die Siedler offensichtlich den Flüssen ge­folgt. Daß die Besiedlung
des Gebiets zwischen der litaui­schen 1400-Grenze und der ostpreußischen Grenze
der des östlichen Ostpreußen vorauf oder aber parallel ging, ist anzu­nehmen.

Im ganzen ist die Besiedelung der Wildnis auf ostpreußischem Boden 1540 bei
weitem noch nicht abgeschlossen. Die Ostgrenze des preußischen Siedelungsraums
ist noch nicht erreicht: nur bei Insterburg berührt sich die vorderste Spitze der
längs der Inster gekommenen litauischen Siedelungslinie mit der preußischen
Siede­lungslinie längs des oberen Pregels. Unter den noch vorhandenen Wildnis-
flächen befindet sich auch das Gebiet östlich der Deime, dessen Flüsse quer zur
Hauptrichtung der litauischen Einwanderung verlaufen. Es ist interessant, daß
es gerade dieses Gebiet ist, das auch im weiteren Verlauf der Wildnisbesiedlung
als allerletztes von den Litauern besetzt wird, und zwar auch in dem Teil, wo die
Bodenfeuchtigkeit der Besiedelung keineswegs hinderlich war.

Ganz allmählich schreitet die Erweiterung des Siedelungslands und die Verdichtung
der Bevölkerung fort. Wenn wir auch für die Zeit nach 1618 uns nicht mehr auf
eine Einzeluntersuchung stützen können, so können wir doch den Zeitpunkt des
Endes der litauischen Einwanderung nach Ostpreußen mit ziemlicher Ge­nauigkeit
angeben. Es ist der Beginn des 18. Jahrhunderts. In dieser Zeit findet nämlich
ein Vorgang statt, den wir bisher eigent­lich nur als einen fürstlichen Willensakt
kennen, der aber doch offenbar in den großen Zusammenhang hineingehört:
die Chatoulsiedlung. Die Durchmusterung der Chatoulsiedlungen nach dem
Goldbeckschen Ortsverzeichnis ergibt, daß es sich auf unserem Gebiet fast
ausschließlich um litauische Siedlungen handelt, und zwar durchgängig Sied-
lungen, die die noch vorhandenen großen Wälder vom Rande her aufzehren.
Diese Chatoulsiedlung, die dem Fürsten seine Privatkasse füllen sollte, war nur
möglich, weil ge­nügend litauische Siedler zur Verfügung standen. Sie ist somit
der letzte Ausklang der großen litauischen Expansion nach Ostpreußen hinein.

Der äußere Anlaß für das Zerbrechen der litauischen Lebens­kraft auf ostpreußi-
chem Gebiet, und vielleicht auch die tatsäch­liche Ursache, war die große Pest
zu Beginn des 18. Jahrhunderts. Sie wütete in den litauisch besiedelten Teilen
Ostpreußens beson­ders stark, und mit ihr war dort eine erhebliche Entvölkerung
verbunden. Die Litauer haben sich von diesem Schlage nie wieder erholt.

Nördlich und nordöstlich der ostpreußischen Grenze sind wir über die litauische
Expansion leider vorläufig nicht so gut orientiert wie für den ostpreußischen
Anteil des Wildnisge­bietes. Immerhin ist einiges deutlich erkennbar. Das west-
liche Tiefzemaiten, das ungefähr der alten Landschaft Ceclis ent­spricht, ist
heute litauisch besiedelt, und wir können, insbesondere aus den Kirchengrün-
dungen, vermuten, daß die Besiedlung unge­fähr zur selben Zeit vor sich gegan-
gen ist wie die Besiedlung des östlichen Ostpreußen. Im nordwestlichen Hochze-
maiten hat die Besiedlung sogar wahrscheinlich sehr bald nach 1400 be­gonnen.

Im Königsberger Staatsarchiv gibt es eine Abteilung "D (Invasion der Litauer
im Amte Grobin 1511 f.), deren Inhalt mir allerdings nicht bekannt ist. Schon
der Titel sagt jedoch genug. Grobin liegt nämlich unweit östlich Libau, und
wenn auch nur ein abgelegener Teil des Amts von der litauischen Invasion
betroffen sein mag, so erkennen wir doch, daß die litauische Expansion hier
im Nordwesten ebenfalls in die Zeit um 1500 zu setzen ist. Auch die Gründungs-
urkunde der Stadt Johannisburg-Schoden vom Jahre 1572 läßt eine litauische
Besiedlung in jener Zeit erkennen. Wie weit Kuren an dieser Neubesiedlung
beteiligt gewesen sind, wird spätere Forschung noch klären müssen.

Im mittleren Norden hat ein litauisches Vordringen nach Norden ebenfalls
stattgefunden, denn heute befindet sich die li­tauische Volksgrenze, die sich
dort ziemlich genau mit der heutigen politischen Grenze deckt, wesentlich
weiter nördlich als 1400, und zwar naturgemäß merklich außerhalb des Memel-
einzugsgebiets. Die heutige Grenze ist in keiner Weise natürlich bedingt, was
auf den ersten Anblick befremdlich ist. Sie ist gegenüber der natür­lichen
Grenze, der Wasserscheide nämlich, durch die litauische Ex­pansion nach
Norden verschoben und hat dadurch einen mehr zu­fälligen Charakter erhalten.
Auch hier im mittleren Norden können wir über den Zeitpunkt des litauischen
Vormarsches Angaben machen. Bielenstein erwähnt nämlich eine die Mitte
des 17. Jahrhunderts betreffende zeitgenössische Darstellung, nach der im
Frauenburgischen und Eserschen viel Litauer neben den Letten wohnen.
Bielenstein schließt daraus und aus anderen Tatsachen (a. a. O. S. 386),
daß die Litauer im 13. Jahrhundert weiter nach Norden gereicht haben,
weil er sich die Litauer nur im Rückgang vorstellen kann. Wir dürfen umge-
kehrt schließen, daß dies so un­gefähr die nördlichste von den Litauern er-
reichte Gegend ist und daß die Wanderung der Litauer ungefähr in jener
Zeit ihren Höhe­punkt erreicht hatte, also zur selben Zeit wie in Ostpreußen.
Die Tatsache der Einwanderung der Litauer war übrigens, wie man aus
einem von Bielenstein mitgeteilten (a. a. 0.), allerdings nicht in dieser
Richtung ausgewerteten Bericht eines dortigen Litauers entnehmen kann,
diesem Litauer durch mündliche Überlieferung noch bekannt. Heute sind
diese Litauer lettisiert; sie haben also ein ähnliches Schicksal gehabt wie
die heute germanisierten Litauer in Ostpreußen.

Wenn die litauische Expansion nach NNW bereits im 17. Jahr­hundert bis weit
in das heutige Kurland geführt hat, so dürfen wir auch für die östlicher gele-
genen Gebiete, also den Südteil des Mitauer Zungenbeckens, ungefähr die-
selbe Zeit für das litauische Vordringen annehmen.

Im Nordosten wissen wir über den Zeitpunkt des litauischen Vordringens
bisher nichts. Auf jeden Fall sind die Litauer auch im Nordosten nach 1400
in die sie, umgebende Wildnis eingedrungen, haben hier, wo sie ursprüng-
lich die Memel-Wasserscheide noch nicht erreicht hatten, diese Wasser-
scheide sogar überschritten und sitzen heute verstreut auch nördlich der
Düna.

Wenn wir das erhaltene Bild in seiner Gesamtheit überschauen, so erkennen wir,
daß es überaus geschlossen ist. Um 500 die Wohnsitze eines Teiles der Balten,
insbesondere der Litauer, noch weit von der Küste weg, ja bis jenseits der kon-
ti­nentalen Wasserscheide, ein anderer Teil bis zur Ostseeküste vor­gedrungen.
Einige hundert Jahre später sind die Litauer bereits mit ihrer ganzen Masse
im Einzugsgebiet der mittleren MemeL Die meisten übrigen Balten außerhalb des
mittleren Memelgebiets sind im Abziehen begriffen oder sterben aus. Ihr ehema-
liges Gebiet wird Wildnis. Nach einer merklichen Pause setzt die vorher zur Ruhe
gekommene litauische Wanderung wieder ein, und die Litauer be­setzen nun
die verlassenen Gebiete der nichtlitauischen Völker. Sie sind es, die die große
baltische Völkerwanderung bis in den Beginn des 18. Jahrhunderts fortgesetzt
haben.

Die Gründe für das Aussterben der nichtlitauischen Völker sind uns ebenso wie
überhaupt die Ursachen der baltischen Wan­derung nicht klar. Buga glaubt, daß
die Balten von innen durch die Slaven gedrängt seien. Das ist an sich nicht zu
widerlegen. Immerhin muß man beachten, daß innerhalb der baltischen Völker
von einem solchen Drängen der zentraleren auf die randlicheren Völker nicht
viel zu bemerken ist. Wir finden immer nur ein Nachrücken von Litauern in die
von den übrigen Völkern seit längerem verlassenen Räume, nicht jedoch eine
Überlagerung der alten Völker durch die Litauer .

Wir haben somit dieselben Probleme, wie sie uns die germa­nische Völkerwanderung
seit langem bietet. Auch da finden wir Völker ohne ersichtlichen Grund in Bewegung:
auch da hat man bei intensiverer Untersuchung häufig festgestellt, daß von einem
Drängen, insbesondere seitens der Slaven, längst nicht überall die Rede ist. Ob es
im baltischen Gebiete Klimaänderungen sind, die den Völkern ihre ursprünglichen
Wohnsitze so verleideten, daß sie aussterben oder aber immer wieder weiter wandern
mußten, ob es eine gewisse Selbstzerfleischung durch dauernde Kämpfe gewesen ist
oder irgend etwas anderes, wir wissen es nicht. Wir können uns nur damit trösten,
daß wir die letzten Ursachen der germa­nischen Völkerwanderung, obwohl diese viel
besser durchforscht ist und nicht erst seit sieben Jahren, ebenso wenig kennen.

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