Berlin-Ost und Berlin-West - architektonisch.

Berlin-Ost und Berlin-West - architektonisch.

Beitragvon -sd- » 06.01.2019, 11:33

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Die beiden Gesichter.

Wissen wir genug von Berlin ? Da wäre noch das äußere, das architektonische Gesicht der Stadt,
oder vielmehr ihre zwei Gesichter. Die Fassaden sind nicht gleichgültig, sie drücken oft aus, was
sich hinter ihnen abspielt ...

Mehrfach haben wir hier über die Ost-Berliner Stalinallee berichtet, dies einzige größere Neubau-
unternehmen der SED. Es wurde vor drei Jahren abgeschlossen und wirkt heute noch so fremd, so
abstoßend wie am ersten Tag. Abgesehen von diesem Fremdkörper, mit seinen verwinkelten, ver-
schnittenen Aktivistenwohnungen hinter kitschig verlogenen Fronten eine getreue Kopie der reprä-
sentativen Moskauer Gorki-Straße, ist in Ost-Berlin praktisch bisher nichts gebaut worden. Gewiß
sind einige Restaurationen und Wiederaufbauten hoch anzuerkennen: die Linden-Oper, die Hedwigs-
kirche, der vordere Flügel des Knobelsdorffschen Zeughauses, und voller Freude vernahmen wir
kürzlich, daß man Schinkels herrliches 'Altes Museum' am Lustgarten wiederherstellen will — aber
im Übrigen befindet sich Ost-Berlin noch im Stadium der Enttrümmerungsarbeiten. Abgeschlossen
sind diese nur in nächster Umgebung des Bahnhofs Friedrichstraße.

Doch von den Linden bis zum Spittelmarkt und von dort am Alexanderplatz vorbei bis zu den Seiten-
straßen der Stalinallee: welch ein trostloser Anblick noch immer.

Und was den Wohnungsbau anbetrifft: bedenken wir, daß Ulbricht in diesem Jahr für Ost-Berlin und
die gesamte sowjetisch besetzte Zone zusammen so viel Wohnungen bauen wird, wie West-Berlin
allein.

Neue Baugesinnung.

West-Berlin gibt sich ein neues Gesicht. Mit dem Hansaviertel, der völligen Neugestaltung des Zoo-
Viertels, mit Hochhäusern, die als "Punktbauten" in der Landschaft stehen oder als Mittelpunkt ge-
schlossener Siedlungen, wie wir sie schon in allen Stadtteilen finden. Man nennt den modernen
Baustil, der auf jeden falschen Prunk verzichtet und ganz vom Zweck des Bauwerks ausgeht, von
der Bestimmung der Innenräume, „funktionalistisch". Das ist gewiß nicht jedermanns Geschmack.
Aber jeder neue Stil hat zunächst die Zeitgenossen befremdet. Und was wir in West-Berlin sehen,
von Corbusiers Wohnstadt am Olympiastadion — in die gerade die ersten Mieter einziehen — bis zu
dem im Rohbau fertigen Hilton-Hotel am Zoo, das alles ist zumindest ein Versuch, der neuen Zeit
den ihr gemäßen Ausdruck zu geben. Es ist ehrlich. Es ist kein Kitsch und keine Kopie. Ganz zu
schweigen von der Kongreßhalle an der Siegessäule, die alle gewohnten Vorstellungen sprengt;
das ist ein Wagnis und als solches schon zu bewundern, und es ist ein geglücktes Wagnis, das der
Baukunst neue Perspektiven öffnet.

Aber Ost und West — wie soll das architektonisch je zusammenkommen, wie wird Berlin von morgen
aussehen ? Welchen Geist wird die Stadt ausstrahlen, wenn sie wieder deutsche Hauptstadt sein wird ?

Soeben hat ein Preisgericht in einem von West-Berlin veranstalteten Architektenwettbewerb ent-
schieden. Aufgabe war der Neu- und Wiederaufbau des Berliner Stadtzentrums zwischen Tiergarten
und Dom, Halleschem und Oranienburger Tor — ein Areal, das heute noch überwiegend im Ostsektor
liegt. 149 Städtebauer und Architektengemeinschaften hatten teilgenommen, davon stammten 77
Arbeiten aus dem Ausland, je eine davon sogar aus der Türkei bzw. Südafrika. Welchen Sinn hat ein
solches Unternehmen ? Nun, es hat nur Sinn, wenn sich Ost-Berlin entschließt, wenigstens zu einer
der zehn Fragen des West-Berliner Regierenden Bürgermeisters Stellung zu nehmen. Die Frage, ob
man sich nicht über die Städteplanung aussprechen könne, ob man nicht endlich gestatte, daß die
Bauexperten und Baubehörden beider Teile der Stadt Kontakt aufnähmen.

Noch ist angesichts der geringen Bautätigkeit in Ost-Berlin nicht viel verdorben; Groß-Berlin von
morgen könnte die Stalinallee als Kuriosum immerhin noch „verdauen", denn abreißen könnte und
würde man sie nicht, wie etwa eine Filmkulisse. Und dennoch drängt die Zeit, soll nicht aus Berlin
ein in der Baugeschichte einmaliger Zwitter entstehen.

Damit sind wir für diesmal am Ende. Viel wurde gezeigt und beleuchtet, doch längst nicht alles.
Die Entwicklung geht weiter, immer wieder werden wir aus Berlin berichten, diesem lebenden
Sinnbild der Teilung Deutschlands, von dieser Stadt, die ebenso Hoffnung wie Warnung ist.
Hoffnung, die von West-Berlin nach Mitteldeutschland und von dort zurück in die freie Welt
ausstrahlt; Warnung an alle die, die den Menschen und seinen Willen, sein Schicksal selbst zu
bestimmen, mißachten, mit Füßen treten.

Quelle: OSTPREUSSENBLATT, 5. Juli 1958

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