Ulbrichts "Proletarische Auslese".

Informationen im Zusammenhang mit der ehemaligen 'Sowjetischen Besatzungszone (SBZ)' und späteren DDR.

Ulbrichts "Proletarische Auslese".

Beitragvon -sd- » 29.11.2018, 10:51

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Ulbrichts "Proletarische Auslese".

Von den 73.000 Studenten, die an den mitteldeutschen Hochschulen immatrikuliert sind,
kommen annähernd 60 Prozent aus der Arbeiterschaft und dem Bauernstand. Der Rest
verteilt sich auf Angehörige der freischaffenden Berufe, der Intelligenz und des gewerb-
lichen Mittelstands. Diese Angaben stammen von Franz Dahlem, dem Stellvertreter des
Staatssekretärs für das sowjetzonale Hochschulwesen, Walter Girnus. Aber dieser hohe
Anteil von "Proletarierkindern" an der Gesamtzahl der Studierenden genügt der SED
keineswegs. Sie ist bemüht, das Ausleseverfahren bei den Studienbewerbern in der
Richtung zu verschärfen, daß das bürgerliche Element an den Hochschulen noch mehr
zurückgedrängt wird als bisher.

Eine "proletarische Auslese" erfolgt im Übrigen bereits bei der Zulassung zu den Mittel-
und Oberschulen. Hier wird sogar ein feiner Unterschied gemacht zwischen "Arbeiter-
kindern" und sogenannten "Kindern von Werktätigen". Als Angehörige der "Arbeiterklasse"
gelten — nach einer Definierung der in Ost-Berlin erscheinenden 'Deutschen Lehrer-
zeitung' — 1. Personen, die seit mindestens fünf Jahren als Arbeiter in Industrie und
Landwirtschaft, im Handel, im Handwerk, im Verkehr und ähnlichen Einrichtungen tätig
sind; und 2. Personen, die "Arbeiter waren und jetzt Funktionen der Partei (!) der Arbeiter-
klasse und der demokratischen Massenorganisationen, der bewaffneten Kräfte, der staat-
lichen Verwaltung oder der volkseigenen und genossenschaftlichen Wirtschaft bekleiden".

Unter den Begriff "Kinder von Werktätigen", also unter die Bevorzugten zweiter Ordnung,
fallen nach den Bestimmungen die Nachkommen von Personen, "die Funktionen der
Arbeiter- und Bauernmacht bekleiden oder beim Aufbau und der Festigung der Republik
eine positive Rolle spielen". Dazu gehören gewisse Gruppen der technischen und wissen-
schaftlichen Intelligenz, Angestellte wissenschaftlicher Institute, Angehörige der "bewaff-
neten Kräfte" sowie Parteiangestellte und gut renommierte Parteigänger. Alle übrigen
Bevölkerungsschichten werden bei der Auslese für die gehobene Schulausbildung benach-
teiligt. Diese systematische Ausschaltung der jungen Leute, die keinen proletarischen
Stammbaum nachweisen können, und so den Weg zur Weiterbildung versperrt finden,
ist deshalb auch einer der Hauptgründe für die zunehmende Fluchtbewegung unter den
Jugendlichen geworden.

Bei der Zulassung zum Universitäts- und Hochschulstudium wird nach den gleichen Grund-
sätzen verfahren. Um Arbeiterkindern, die nicht die Oberschule absolviert haben, die
Hochschulreife zu vermitteln, wurden Vorstudien-Anstalten an den Hochschulen, die
sogenannten "Arbeiter- und Bauern-Fakultäten" geschaffen, die im Sprachgebrauch der
SED als "Klasseninstitutionen der fortschrittlichsten sozialen Gruppen" gelten. Die Absol-
venten dieser Arbeiter- und Bauern-Fakultäten werden, wenn sie ihren dreijährigen Lehr-
gang beendet haben, bevorzugt zum Hochschulstudium zugelassen und gelten dann als
"politische Elite der Studentenschaft". Im Übrigen werden künftig nur noch solche jungen
Leute zum Studium zugelassen, die neben dem vorgeschriebenen Abschluß-Examen an
einer Oberschule oder einer Arbeiter- und Bauern-Fakultät ein praktisches Arbeitsjahr
in einem industriellen oder landwirtschaftlichen Betrieb oder eine entsprechende
Militärdienstzeit bei den Streitkräften der DDR abgeleistet haben.

Weitere Pläne, wie sie der ZK-Sekretär Kurt Hager auf der dritten Hochschul-Konferenz
der SED verkündete, gehen dahin, im zweiten und vierten Studienjahr einen militärischen
Ausbildungskursus von je vier Wochen für jeden Studenten obligatorisch zu machen.
Ferner soll an allen 46 Universitäten und Hochschulen Mitteldeutschlands das sogenannte
"gesellschaftswissenschaftliche Studium" erweitert werden, wobei insbesondere der dia-
lektische und historische Materialismus, die "Polit-Ökonomie" und die Lehre vom "wissen-
schaftlichen Sozialismus" eingepaukt werden.

Jeder Student, ganz gleich welcher Fakultät, hat hinreichende Kenntnisse in diesen
Fächern nachzuweisen, wenn er sein Examen bestehen will. Dieser parteipolitische Unter-
richt soll künftig etwa 25 Prozent des gesamten Studienpensums — bisher etwa zehn Prozent —
erfassen. Auch diese Maßnahme soll der "Überwindung der bürgerlichen Ideologie" dienen,
die nach Ansicht der SED-Führung immer noch an den Hochschulen der Zone lebendig ist.
So erklärte das Zentralorgan der SED 'Neues Deutschland', es sei eine "falsche und schädliche
Auffassung, wenn der Zweck einer akademischen Ausbildung darin gesehen wird, vorwiegend
einen Chemiker, Maschinenbauer oder Biologen auszubilden; sondern der Zweck einer aka-
demischen Bildung muß in erster Linie die Heranbildung einer sozialistischen Persönlichkeit (!)
sein, die als solche Chemiker, Biologe oder Arzt ist".

Nun ist es der kommunistischen Führung trotz aller rigorosen Maßnahmen bisher noch
keineswegs gelungen, den von ihnen gewünschten Typ der "sozialistischen Hochschule" zu
schaffen oder diese gar in Kaderschmieden der Partei umzuwandeln. Die SED-Stellen führen
gerade neuerdings Klage darüber, daß selbst die Arbeiter- und Bauernstudenten, die aus
einem einwandfreien proletarischen Milieu kommen", sich keineswegs immer zuverlässig
im Sinne der Partei zeigten und vielfach ihre Verpflichtungen zum Arbeitseinsatz in der
Produktion versäumten. Auch stößt das Bemühen, die Zahl der sogenannten "Arbeiter- und
Bauernstudenten" zu erhöhen, auf zunehmende Schwierigkeiten, da sich nicht genügend
Bewerber "proletarischer Herkunft" melden. So konnte die "Arbeiter- und Bauern-Fakultät"
der Ost-Berliner Humboldt-Universität, die für das neue Studienjahr 280 Bewerber auf-
nehmen sollte, bisher nur 95 Anmeldungen verzeichnen. Zu gleicher Zeit aber wurden
andere junge Leute zurückgewiesen, auch wenn sie begabt waren, weil sie keinen prole-
tarischen Stammbaum nachweisen konnten.

Inzwischen gehen die kommunistischen Gleichschaltungsversuche weiter. Die Unruhe an
den Universitäten und Hochschulen hält an, in der Studentenschaft wie auch bei den
Professoren und Dozenten. Eine Folge davon ist die zunehmende Fluchtbewegung in
diesen Kreisen. So haben seit der letzten SED-Hochschul-Konferenz, also seit März dieses
Jahres, 107 Wissenschaftler der sechs Zonen-Universitäten und der Technischen Hoch-
schule Dresden die Flucht in die Bundesrepublik angetreten. Dennoch dürfte sich die SED-
Führung dadurch keineswegs von dem einmal eingeschlagenen Weg abbringen lassen; sie
ist offenbar entschlossen, die "Reform der Universitäten und Hochschulen" durchzuführen,
um jeden Preis und ohne Rücksicht auf Verluste ! Eugen Hartmann

Quelle: OSTPREUSSENBLATT, 26. Juni 1958

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