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Gnesen – Stadt im Zwielicht. (Stand: Oktober 1957.)
Ein französischer Besucher, dessen Firma seit etwa 1910 mit der Eisenindustrie
in der damals westpreußischen Stadt Gnesen in Geschäftsverbindung stand, hat
jetzt(1957 !!) von Posen aus die schon 1919 an Polen verlorene Stadt nach
längerer Abwesenheit wieder einmal aufgesucht. Der Bericht dieses Ausländers
ist interessant, weil er Gnesen vor dem Ersten Weltkrieg kannte, die Stadt in
den dreißiger Jahren wieder aufsuchte und sie noch einmal kurz vor Ausbruch
des Zweiten Weltkrieges sah.
Die Schilderung dieses unvoreingenommenen Besuchers gipfelt in der Fest-
stellung: "In den 38 Jahren polnischer Herrschaft in Gnesen haben sich die
Verhältnisse in dieser Stadt von Jahrzehnt zu Jahrzehnt weiter zum Schlechten
entwickelt !" Diese Feststellung ist umso erschütternder, wenn man bedenkt,
daß Gnesen im Zweiten Weltkrieg von Fliegerangriffen völlig verschont blieb
und auch keine anderen wesentlichen Kriegsschäden erlitt. Am hervorstech-
endsten ist, daß sich Gnesen seit der Loslösung vom Deutschen Reich nicht
weiterentwickelte. Es gab in 38 Jahren keinen Fortschritt, keine Initiative
und keine Weiterentwicklung.
Wenn man von dem Neubau einer Rüstungsfabrik, die Lederwaren für die
polnischen Streitkräfte fabriziert, absieht, so gab es seit 1919 in dieser Stadt
keinen Fortschritt, sondern nur ein Zehren von der Substanz. Das spiegelt sich
auch in der Einwohnerzahl, die seit nahezu vierzig Jahren mit rund 30.000
Bürgern konstant geblieben ist, während sich gleichgroße Städte in anderen
Teilen Europas inzwischen stark vergrößerten.
Wer heute Gnesen besucht, der findet rein im Äußeren in der Mehrzahl die
Zeugnisse des Deutschtums: fast alle Häuser und Gebäude sind in der Zeit bis
1919 entstanden. Wie jedoch sehen diese Häuser aus ! Sie sind in Jahrzehnten
vernachlässigt worden und in einem Zustand, der bei uns die Baupolizei auf
den Plan rufen würde ! Der Besucher aus Frankreich erfuhr voller Staunen.
daß ein Achtel aller tödlichen Unfälle in der Stadt auf baufällige Häuser und
Wohnungen zurückgeht ! Es ist durchaus keine Sensation, wenn irgendwo in
den Straßen plötzlich ein Dach einstürzt, ein Treppenhaus zusammenkracht
oder metergroße Stücke Stuck oder Putz von den Außenwänden herabfallen.
Immer wieder fand der Besucher bestätigt, daß in bald vier Jahrzehnten auch
nicht die primitivsten Arbeiten zur Erhaltung und Reparatur vorgenommen
worden sind.
Die ohnegleichen verlotterte Stadt machte auf den Franzosen einen gespen-
stischen Eindruck. Seiner Meinung nach haben die Jahre seit 1945 Gnesen
endgültig den Rest gegeben: "Die Hälfte aller Gebäude kann man mit ruhigem
Gewissen als abbruchreif bezeichnen, während der Rest nur durch sofortige
und kostspielige Reparaturen für die Zukunft zu retten wäre. Da jedoch nichts
geschieht, ist auch der Rest abbruchreif.". Der Franzose sagte uns, daß er in
Gnesen den regelrechten Verfall einer Stadt in Friedenszeiten gesehen habe !
Bevor wir auf weitere Beobachtungen dieses Besuchers eingehen, wollen wir
auf andere Einzelheiten eingehen, die die 'Ostpreußen-Warte' aus Gnesen
erfahren hat. Das betrifft beispielsweise die Verwendung der Stadt als
Garnison. Bürger dieser Stadt werden sich erinnern, daß es in Gnesen eine
Anzahl von Kasernen gab, die heute fast alle noch existieren. Dazu kommen
noch einige Neuanlagen, die jedoch in Barackenform entstanden sind. Alles
in allem zählt Gnesen heute eine starke Garnison. Sie umfaßt hauptsächlich
Spezialeinheiten wie Pioniere, Pak-Artillerie usw. Erst in den letzten Tagen
wurde die Gnesener Garnison durch ihre Teilnahme an den Herbstmanövern
1957 der polnischen Streitkräfte bekannt, die in dem benachbarten Ostpommern
durchgeführt wurden.
Gnesen mit anderen Teilen der Provinz Posen und Westpreußens gehörte zu den
Bereitstellungsräumen. In der Stadt sammelten sich dazu viele motorisierte
Einheiten, die von hier aus zu den Manövern in Ostpommern abrückten. Bekannt-
lich wurden bei diesen Übungen zum ersten Mal in der polnischen Heeresgeschichte
nukleare Übungsbomben eingesetzt und die Manöver unter atomaren Bedingungen
abgehalten. Spezialeinheiten aus Gnesen rückten dazu auf Truppenübungsplätze
in der Grenzmark (heute Wojewodschaft Köslin, früher Regierungsbezirk Schneide-
mühl) ab, auf denen mit Hilfe chemischer Mittel die typischen Explosionspilze von
Atombomben erzeugt wurden. Wie es heißt, bildet die Gnesener Garnison seit dem
auch die hier stationierten Soldaten in der atomaren Kriegsführung aus. Auf einem
Artillerie-Übungsplatz hier wurde jetzt auch erstmalig der Einsatz von Raketen-
waffen wie modernisierten "Stalinorgeln" usw. beobachtet.
Besonders interessant bei der Gnesener Garnison ist, daß seit September dieses
Jahres hier auch wieder sowjetische Verbindungsoffiziere aufgetaucht sind, die
schon an den Herbstmanövern in Ostpommern teilgenommen haben. Seit Gomulkas
Regierungsübernahme hatte es in der Gnesener Garnison keine Kontakte mehr mit
russischen Offizieren und Stäben gegeben. Nun scheint jedoch eine neue Ära der
militärischen Zusammenarbeit begonnen zu haben. In diesem Zusammenhang ist
auch interessant, daß wie in Ostpreußen und Ostpommern auch in Westpreußen
verschiedene Kriegsflugplätze wieder den Sowjets übergeben wurden, nachdem
sie in dem vergangenen Jahr in polnischen Besitz übergegangen waren. Rußlands
Hilfe bei der Umstellung auf atomare Kriegsführung innerhalb der polnischen
Armee scheint Warschau mit der erneuten Überlassung der Kriegsflugplätze an
die Sowjet-Luftwaffe honoriert zu haben.
Obwohl die Soldaten der Garnison über eigene Kasinos und Unterhaltungsstätten
mit Kino usw. verfügen, ist das Bild der Stadt doch stark von dem Militär geprägt.
Nachdem viele Geschäfte keinen Alkohol mehr verkaufen dürfen, um die Trunk-
sucht einzudämmen, sieht man jetzt vor den wenigen Verkaufsstellen Soldaten
und Bürger in langen Schlangen nach Schnapsflaschen anstehen. Genauso gut
sieht man die Uniformierten aber auch auf dem Schwarzmarkt unweit des Doms,
wo es ebenfalls billigen Fusel gibt. Es ist durchaus an der Tagesordnung, daß man
zechende Soldaten in den Grünanlagen antrifft. Schankstuben und Gaststätten
werden wegen der höheren Preise nicht so sehr aufgesucht. Dort trifft man mehr
Unterführer oder sogar Offiziere. Trotz vieler Kampagnen konnte bisher die Trunk-
sucht weder beim Militär noch unter den Zivilisten eingedämmt werden. Auch
drastische Strafen — wie Strafarbeiten aufgegriffener Betrunkener in der Leder-
fabrik - helfen nicht viel.
Hungern braucht in Gnesen niemand mehr — wenn er nur genug Geld hat. Jeden
Tag kommen aus den vielen Dörfern der Umgebung Bauern mit Wagen, den Rädern
oder mit der Bahn in die Stadt, um ihre Erzeugnisse anzubieten. Außerdem gibt es
regelmäßige große Markttage. Und dann ist es ganz besonders zu merken, daß
Gnesen seinen städtischen Charakter weitgehend eingebüßt hat und starke
Tendenzen zum Absinken auf den Stand einer Ackerbürgerstadt zeigt. Oft genug
wird an den Markttagen die Straßenbahn einfach stillgelegt, weil einfach kein
Durchkommen mit den durch Vieh, Ständen und Wagen verstopften Straßen ist.
Trotz dieser Entwicklung ist es aber bis heute nicht gelungen, eine wirklich her-
vorragende Einrichtung der Landwirtschaft wieder zum Leben zu erwecken: den
berühmten Gnesener Pferdemarkt, der weithin in Deutschland einen guten Namen
hatte und auf dem sich Pferdekenner aus allen Provinzen trafen.
Wenden wir uns den industriellen Problemen zu. Die früheren Betriebe der eisen-
verarbeitenden und landwirtschaftlichen Industrie haben nach ihrer Verstaat-
lichung ihre Bedeutung verloren. Die Produktion ist nicht mehr nennenswert und
vor allem nicht konkurrenzfähig. Erwähnenswert ist eine im Landkreis Gnesen
vor drei Jahren errichtete Stickstofffabrik, in der jedoch hauptsächlich Auswärtige
und Dorfbewohner arbeiten. In Gnesen selbst hat nur die 1949 errichtete Leder-
fabrik Bedeutung. Sie produziert, wie schon gesagt, für die Streitkräfte. Erst in
letzter Zeit wird auch der zivile Sektor mehr berücksichtigt. Zum Kummer der
Einwohner aber geht dieser Teil der Produktion meistens ins Ausland, um Devisen
hereinzubekommen. Es handelt sich um eine für polnische Verhältnisse ziemlich
große Schweinslederfabrik, die zurzeit nach Schweden und in die Türkei exportiert.
Es stimmt allerdings nicht, daß es sich bei dem Betrieb um den größten seiner Art
handelt, wie die polnische Presse gern behauptet (ihr fehlen ja die Vergleichs-
möglichkeiten). Immerhin verlassen täglich 20 Tonnen — das sind 10.000 Schweins-
häute oder 5.000 Quadratmeter Leder — in rohem oder verarbeitetem Zustand
die Fabrik. Hergestellt werden siebzehn Arten von Leder, beispielsweise Ober-
leder, Futterleder, Veloursleder und anderes. In vielen Farben liefert der Betrieb
auch Material für die Schuh- und Galanteriewaren-Produktion.
Wenig ist über Deutsche in Gnesen bekannt. Polnischerseits erfährt man lediglich,
daß in der Lederfabrik und in einigen handwerklichen Werkstätten noch Deutsche
arbeiten. Im Übrigen fand der französische Besucher in der Lokalzeitung Anzeigen,
daß im Kulturhaus und im Stadttheater hin und wieder Gastspiele von Bühnen aus
der Sowjetzone in deutscher Sprache stattfinden. Wie stark das deutsche Bevöl-
kerungselement aber noch ist, kann nicht gesagt werden.
Zum Schluß wenden wir uns den bekannten Bauwerken der Stadt zu. Rathaus und
Dom fand der Gast aus Frankreich in gutem Zustand. Augenscheinlich sind
Erhaltungsarbeiten vorgenommen worden. Vor allem der im 14. Jahrhundert auf
den Resten seines Vorgängers aufgeführte Gnesener Dom bietet das imposante
Bild wie zu unserer Zeit. Seit längerem kommen auch ausländische Kunsthistoriker
nach hier, um die gewaltige Bronzetür aus dem Jahre 1150 mit ihren vielen Flach-
reliefs zu bewundern. Man kann der Stadtverwaltung wenigstens im Falle dieser
historischen Bauwerke nicht den Willen zur Erhaltung absprechen.
Quelle: OSTPREUSSEN-WARTE, Oktober 1957
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Zur Kenntnis gebracht durch Inge Barfels.
Gnesen – Stadt im Zwielicht.
Moderator: -sd-
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