Natascha Wodin 'Sie kam aus Mariupol'.

Natascha Wodin 'Sie kam aus Mariupol'.

Beitragvon -sd- » 20.06.2017, 16:53

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Gegen das Vergessen.

"Wenn du gesehen hättest, was ich gesehen habe ...", diesen Satz hört Natascha Wodin als Kind
oft von ihrer Mutter. Als Natascha zehn ist, bringt ihre Mutter sich um und nimmt die Schrecken
ihres Lebens mit ins Grab. Viele Jahre versuchte Wodin vergeblich, etwas über die Frau heraus-
zufinden, die 1944 als ukrainische Zwangsarbeiterin nach Deutschland kam und dort kurz nach
dem Krieg ihre Tochter bekam. Dann, eines Nachts, öffnet sich im Internet ein Fenster in die
Vergangenheit und führt ans Asowsche Meer zu einer Hafenstadt, die mehrheitlich von Griechen
bewohnt war, und zu einem ukrainischen Adeligen und Großgrundbesitzer, der ihr Urgroßvater
war.

'Sie kam aus Mariupol' ist die Geschichte einer bewegenden Spurensuche. Durch ihre Familien-
forschung entreißt Natascha Wodin nicht nur ihre Mutter dem Vergessen, sondern setzt auch
Millionen unbekannter Zwangsarbeiterinnen ein Denkmal. Dafür bekam sie im März 2017 den
Preis der Leipziger Buchmesse.

Rowohlt, 368 Seiten, 19,95 Euro.

Hinweis: Mehr über dieses Buch und seine Geschichte in der neuen BRIGITTE WOMAN.

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Natascha Wodin 'Sie kam aus Mariupol'.

"Wenn du gesehen hättest, was ich gesehen habe" - Natascha Wodins Mutter sagte diesen Satz
immer wieder und nahm doch, was sie meinte, mit ins Grab. Da war die Tochter zehn und
wußte nicht viel mehr, als daß sie zu einer Art Menschenunrat gehörte, zu irgendeinem Keh-
richt, der vom Krieg übriggeblieben war. Wieso lebten sie in einem der Lager für "Displaced
Persons", woher kam die Mutter, und was hatte sie erlebt ? Erst Jahrzehnte später öffnet sich
die Blackbox ihrer Herkunft, erst ein bißchen, dann immer mehr.

"Sie kam aus Mariupol" ist das außergewöhnliche Buch einer Spurensuche. Natascha Wodin
geht dem Leben ihrer ukrainischen Mutter nach, die aus der Hafenstadt Mariupol stammte
und mit ihrem Mann 1943 als "Ostarbeiterin" nach Deutschland verschleppt wurde. Sie erzählt
beklemmend, ja bestürzend intensiv vom Anhängsel des Holocaust, einer Fußnote der Geschichte:
der Zwangsarbeit im Dritten Reich. Ihre Mutter, die als junges Mädchen den Untergang
ihrer Adelsfamilie im stalinistischen Terror miterlebte, bevor sie mit ungewißem Ziel ein deut-
sches Schiff bestieg, tritt wie durch ein spätes Wunder aus der Anonymität heraus, bekommt
ein Gesicht, das unvergeßlich ist. "Meine arme, kleine, verrückt gewordene Mutter", kann
Natascha Wodin nun zärtlich sagen, und auch für uns Leser wird begreifbar, was verlorenging.
Daß es dieses bewegende, dunkel-leuchtende Zeugnis eines Schicksals gibt, das für Millionen
anderer steht, ist ein literarisches Ereignis.
"Das erinnert nicht von ungefähr an die Verfahrensweise, mit der W. G. Sebald, der große
deutsche Gedächtniskünstler, verlorene Lebensläufe der Vergessenheit entriß."
(Sigrid Löffler in ihrer Laudatio auf Natascha Wodin bei der Verleihung des Alfred-Döblin-
Preises 2015.)

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