Gemeindeseelenlisten / Kreiskarteien.

Bestände und Dienstleistungen.

Gemeindeseelenlisten / Kreiskarteien.

Beitragvon -sd- » 14.10.2012, 11:58

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Eine Frage, die mich beschäftigt ist:

Wurden (wenn überhaupt) die persönlichen Daten der Menschen,
die bei der Flucht in der freien Natur gestorben sind, von irgendeiner
Einrichtung aufgezeichnet ? Ich denke da an eine Art "Befragung"
bei den Flüchtlingen, sobald sie eine erste Bleibe gefunden hatten.
Zum Beispiel durch das Rote Kreuz oder durch Standesämter ?
Bei dem Standesamt in der neuen Heimat wurden die Personalien
der Geflüchteten aufgeschrieben (für neue Ausweise etc.), aber gab
es so etwas wie "nachträgliche Sterbeurkunden" der Verstorbenen ?

Wißbegierige Grüße

Michael Kampmann
Mailto: kampmann.michael(at)gmail.com



Michael Kampmann schrieb an Dieter Sommerfeld:
"Gerne gebe ich ihnen die Erlaubnis, meinen Text in ihr Forum aufzunehmen.
Sie haben da ein wirklich beachtliches digitales Werk aufgestellt, mit dem ich
für die nächste Zeit wieder etwas mehr zu stöbern habe."


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Thomas Nehrenheim antwortete:

Auch wenn es abschnittsweise während der Flucht (ich spreche hier von
Ostpreußen, nicht von Ostbrandenburg) noch erstaunlich organisiert
zuging, so muß man doch sagen, daß sobald die Front nun an die
Flüchtlinge physisch heranrückte, (natürlich) jeglicher Halt verloren
ging. Es herrschte Chaos. Selbst die Wehrmacht hat verwundete
Zivilisten nur mitgenommen und weitergeleitet. Da wurde nichts mehr
notiert.

Wer dann das Glück hatte im Westen angekommen zu sein, hatte oft
zunächst andere Sorgen als seine Verwandten zu finden: Unterkunft,
Essen, Behörden. Man knüpfte oft die ersten Kontakte über gemeinsame
Verwandte / Bekannte / ausgemachte Adressen, an die man schrieb und
mitteilte ich lebe, da und dort. Die im Lazarett oder in Dänemark oder
sonstwo in halbwegs zivilisierten Verhältnissen waren, wurden später
vom Roten Kreuz erfaßt, das aber eigentlich mit der Masse überfordert
war, so daß man sich nicht selten eher durch Bekannte, Hören-Sagen
usw. wiederfand als durch das DRK.

Flüchtlinge wurden meines Wissens nicht über Verluste an Angehörigen
befragt, möglicherweise spätere Vertriebene. Aber auch hier ging es
nicht um Dokumentation, sondern um Menschenbelange. (Mein Vater
hatte bis 1959 nicht einmal eine Geburtsurkunde. Die mußte dann
her, und dazu war es notwendig, seine Eltern zu benennen.)

Einige Pfarrer der geflüchteten Gemeinden suchten bald schon, noch
unter den Bedingungen der Zensur, ihre Gemeindemitglieder wieder
zusammen, nahmen auf, wer wo angeblich umgekommen war und wer
wo lebte. Da war es wegen der Zensur schwierig, genauere Angaben
zu Todesumständen zu machen. Papier war knapp, und so gingen
solche Pfarrerbriefe oft von Gemeindemitglied zu Gemeindemitglied
quer durch Deutschland.

In den 50er Jahren gab es dann die Erfassung der sog. Seelenlisten
als Vorarbeit zum Lastenausgleich
. Diese Listen sind m.W. einiger-
maßen vollständig und heute noch eine wichtige Quelle über die
Bewohner der Orte im Osten
. Die Listen werden in einem Bundes-
archiv (Lastenausgleichsarchiv) in Bayreuth verwahrt. Evtl.

http://www.bundesarchiv.de/aufgaben_org ... index.html


Darüber hinaus gab es die Anstrengungen der Kirchlichen Suchdienste
zur Erfassung der Bewohner. Diese wurden m.W. ökumenisch geführt
und bildeten die sog. Heimatortskarteien (HOK). Die für Ostbrandenburg
war in Augsburg. Sie ist mit allen anderen (ich glaube außer München)
2000 aufgelöst und die Bestände zur HOK nach Stuttgart verbracht
worden. http://www.kirchlicher-suchdienst.de

Die hinterbliebenen Ehefrauen haben ihre vermißten Ehemänner in den
50er Jahren beim Amtsgericht ihres neuen Wohnortes in vielen Fällen für
tot erklären lassen, um Rentenansprüche o.ä. stellen zu können. Diese
Gerichtsentscheide müßten dann beim StA an diesem Wohnort liegen.

Wo komplette Familien/Restfamilien umgekommen sind, gibt es oftmals
rein nuscht an Informationen, wenn nicht irgendwelche Augen- / Ohren-
zeugen später beim Pfarrer, in persönlichen Briefen an Bekannte, in
Heimatbriefen, in Zeitzeugenberichten (die aber leider allzu oft à la
"Frau M." anonymisiert sind) etwas aufgezeichnet haben. Wenn dann
auch noch die Personenstandsdokumente der Zeit 1874-1945 fehlen,
so gibt es oft nichts von diesen Menschen, was ihre Existenz heute
noch belegt, manchmal nicht einmal die Namen. - Das finde ich zutiefst
traurig.

Es hat von Seiten unseres Staates nie den Versuch gegeben, die
Menschenverluste an Zivilbevölkerung systematisch zu erfassen
- was vielleicht auch organisatorisch zum damaligen Zeitpunkt mit
all den Umständen nicht möglich war. Die materiellen Verluste, die
hat man wohl versucht zu erfassen.

Anmerkung:
Lieber Herr Sommerfeld, vielen Dank für Ihre Nachricht und die freundliche
Mühe, die Sie sich machen. Das tut kaum jemand, ...
Also, ja, übernehmen Sie meine Erläuterung bitte. Solle es helfen !
Thomas Nehrenheim


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